Vielen Dank für Ihre Bücher
Sunday 03 December 2006
Liebe Alice Miller,
ich habe zwei Ihrer Bücher gelesen (Du sollst nicht merken & Die Revolte des Körpers). Letzteres habe ich regelrecht verschlungen. Was Sie schreiben stimmt für mich völlig. Ich habe eine sehr sehr chaotische Kindheit gehabt. Ziemlich früh habe ich Antworten in allen möglichen pyschologischen Büchern gesucht, weil ich niemanden hatte, der mich irgendwie verstehen konnte, aber nie eine Antwort bekommen. Ich wusste selbst nicht was mit mir los ist. Im Alter von 8 Jahren fing es an, unerträgliche Kopfschmerzen, wenn ich von der Schule nach Hause (?) kam, Depressionen in der Pubertät und nur den Gedanken, dass ich wenigsten meinen Tod schön gestalten wollte, wenn es schon mein Leben nicht war hat mich irgendwie am Leben gehalten. Das erklärt sich so: Meine Mutter ist ein großes Kind, d.h. sie hat mich mehr wie eine Puppe, als wie einen Menschen behandelt. Ihr war es völlig gleichgültig was ICH fühlte. Es ging immer nur um sie. Sie hat mich körperlich misshandelt und seelisch missbraucht. Sie hat meine ältere Schwester im Wohnzimmer mit einem Wanderstock geschlagen, die Tür verschlossen und ich habe davor gestanden und nur ihre Schrei anhören können. Hatte sie ihre unkontrollierten Wutausbrüche hat Sie mit Gegenständen nach uns geworfen. Sie hat mir fast jeden Tag gesagt, dass ich eine Schande sei – ein Dreckmensch und sie nur Scherereien wegen uns hätte. Wir lebten im Haus meiner Großeltern väterlicherseits. Meine Großeltern haben meine Mutter nie akzeptiert und es herrschte ständig Krieg. Meine Mutter gab uns die Schuld, all diese Demütigen ertragen zu müssen – zu unserem Wohle. Mein Vater war nie da. Er hat sich nur davongeflüchtet. Hat er nicht irgendetwas gearbeitet, ist er lieber in die Kneipe saufen gegangen und hat uns mit dieser Frau im Stich gelassen. Ich fühlte mich von allen Seiten regelrecht erdrückt. Ich war die spaßige die den verrückten Laden bei Laune gehalten hat. Meine Erzeugerfamilie will das alles nicht sehen. Selbst meine Schwester nicht die ja alles genauso wie ich als Opfer miterlebt hat. Ich komme mir in dieser Gesellschaft so fehl am Platz vor und weiß gar nicht wo ich hingehöre. Seit ca. 3 Jahren mache ich eine Therapie. Der Therapeut hat seine eigene Geschichte bearbeitet und mir auch eines Ihrer Bücher empfohlen. Die letzte Zeit war bei mir wie eine Berg – und Talfahrt. Ich leide seit meiner Kindheit unter Ess-Störungen. Mit 21 Jahren ist bei mir Magersucht ausgebrochen. Als ich immer weniger wog bekam ich es mit der Angst zu tun. Im Alter von 21 Jahren hatte ich auch meine Kindheit völlig „vergessen“. Als dann die Bilder wieder hochkamen (mit ca 25) habe ich Unmengen von Essen in mich reingestopft. Es war grauenhaft. Mittlerweile ich bin jetzt 28 Jahre alt, stopfe ich mich nicht mehr voll. Aber es sind noch ein paar „Reste (?)“ übrig geblieben. Ich esse noch mehr als mir gut tut und ich rauche (immer noch). Beides würde ich gerne los haben. Das verrückte daran ist jedoch, wenn ich versuche darauf zu achten, passiert genau das Gegenteil von dem was ich will. Meine Mutter hatte mich nicht nur geschlagen, sondern Sie hat mich auch mit Ihrer „Liebe“ erdrückt. Auch körperlich. Im Alter von 8 Jahren hat sie mich so sehr gedrückt, dass ich Angst hatte zu ersticken und ihr den Arm mit einem Glas gebrochen habe. Meine Mutter hatte auch die verrückte Idee aus mir müsse etwas Besonderes werden. Berühmt, ach was weiß ich was sie sich alles zusammengesponnen hat. Was ich wollte war ihr völlig gleichgültig. Das ist es auch bis heute. Ich habe den Kontakt zu diesen Menschen nicht vollständig abgebrochen. Gestern habe ich sie auf einer Feier von meiner Schwester gesehen und ich habe immer noch Angst (mein Körper hat noch immer Angst) vor Ihnen. Sie laufen mir nach wie ausgehungerte Wölfe und ich zucke nur zusammen und spüre den Drang davonzurennen. Nach dem gestrigen Abend habe ich das Gefühl, dass da kein Kontakt möglich ist ohne, dass ich daran zu Grunde gehe und das will ich nicht. Ich danke Ihnen dafür, dass Sie so mutig sind die Wahrheit zu schreiben. Das hat mich wieder auf den richtigen Weg zurückgebracht. Vielleicht werde ich ja auch meine „Reste“ los wenn ich den Kontakt diesen Leuten endlich aufgebe.
Ganz liebe Grüße, S.J.
AM: Ja, Sie sind ja schon auf dem besten Weg dorthin.