Warum Fragen

Warum Fragen
Friday 20 October 2006

Liebe Frau Miller,

vor einigen Wochen habe ich Ihnen schon mal einen Leserbrief geschrieben (die Angst überwinden, 03. August). Ich habe mich sehr über Ihre rasche Antwort gefreut. Im ersten Moment war ich schockiert, als ich las, dass ich mich mit der Sichtweise meiner Eltern identifiziere. Ich beschäftige mich so viel mit meiner Kindheit und dachte, ich wäre schon weiter. Aber Sie haben Recht. Es fällt mir so schwer, Mitleid mit dem Kind zu haben, das ich war. Manchmal, wenn ich mit meinem Mann darüber rede, wie ich als Kind behandelt wurde und er sehr mitfühlend ist, ertappe ich mich dabei, dass ich alles bagatellisiere und denke, dass er ein Weichei ist.

Aber es geht trotzdem voran, wenn auch in kleinen Schritten. Inzwischen habe ich erfahren, dass ich nach meiner Geburt etwa 10 Tage in einer Uniklinik lag, weil ich nicht essen wollte und nicht ruhig zu kriegen war. Mein Vater hat mir diese Geschichte auf Nachfrage erzählt, da ich eine diffuse Erinnerung hatte, dass nach meiner Geburt irgendetwas mit mir war. Im Vordergrund der Erzählung meines Vaters stand die Tatsache, wie sehr meine Mutter und er darunter gelitten haben, mich mit all diesen medizinischen Gerätschaften in der Klinik zu sehen. Irgendwann hätte ich damals dann auch Beruhigungsmittel bekommen. Auf meine Rückfrage hin, welches Medikament das war, hiess es, es seien homöopathische Mittel gewesen, nichts Schlimmes. Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass in einer Uniklinik homöopathische Mittel verabreicht werden. Ich glaube eher, dass das nur eine weitere Lüge meines Vaters war. Er nimmt es im Allgemeinen mit den Details nicht so genau und erzählt einfach jedem das, was er hören möchte, damit er aus dem Schneider ist.

Es ärgert mich so sehr, dass er nur an sich denkt! Selbst als ich, sein eigenes neugeborenes Kind, nahrungsverweigernd im Krankenhaus liegt, denkt er nur an sich! Vermutlich war er sogar sauer auf mich, weil ich meinen Eltern die Stimmung vermiest habe. Das macht mich so wütend und es ist wirklich typisch für ihn! Vor einiger Zeit ist eine gute Bekannte von ihm gestorben. Am Telefon wirkte er geknickt und ich fragte: Was ist los? Da meinte er es ginge ihm nicht so gut, er hätte kein schönes Wochenende gehabt. Als ich dann fragte, warum nicht, meinte er, xy sei gestorben. Was ist das für eine Reaktion? Wen interessiert es, ob er ein schönes Wochenende hatte? Da ist gerade jemand gestorben! Kein Wort des Mitleides für den Ehemann, kein Wort des Bedauerns, dass die Bekannte so viele Jahre ihres Lebens verloren hat. Sein Wochenende wurde gestört, das war die Hauptbotschaft. Meine Schwester hat in diesen Tagen ein sehr ähnliches Telefonat mit ihm geführt und war genauso entsetzt. Alles in allem habe ich den Kontakt zu meinem Vater reduziert. Es fällt mir aber nicht leicht und ich habe Mitleid mit ihm. Trotzdem würde ich ihm gern all meine Tagebuchaufzeichnungen etc. schicken, damit er endlich weiss, was er und meine Mutter mir angetan haben und damit in irgendeiner Form wieder Gerechtigkeit herrscht. Aber ich habe den Eindruck, er würde es entweder nicht begreifen oder darunter zusammenbrechen.

Ausserdem fühle ich mich immer noch so oft schuldig und unzulänglich. Ich merke, wie ich immer noch einem Ideal der Perfektion hinterherlaufe, dass ich nie erreichen kann und das eigentlich auch überhaupt nicht erstrebenswert ist. Ich weiss das, und trotzdem mühe ich mich ab und versuche, diesen negativen Gefühlen zu entkommen, indem ich mich noch mehr anstrenge und mich noch mehr kontrolliere. Vorgestern Abend habe ich dann in meiner Wut darüber einen Brief an meine Eltern geschrieben, in dem ich ihnen mitteile, dass ich nicht mehr den Sündenbock für sie spielen will und dass ich nicht mehr um ihretwillen alle meine vermeintlich schlechten Gefühle und Eigenschaften unterdrücken und nach Perfektion streben will. Danach ging es mir schon besser. Dann war gestern aber wieder eine Situation bei der Arbeit, die mich in Selbstvorwürfe stürzte. Niemand hat mir einen Vorwurf gemacht, aber ich geriet nahezu in Panik, weil ich Angst hatte, etwas falsch gemacht oder jemanden verletzt zu haben. Es ist wirklich so, dass ich zu Hause keinen klaren Gedanken fassen konnte und richtig unruhig wurde.

Nach einiger Zeit habe ich dann überlegt, ob ich mich vielleicht schuldig fühlen WILL? Also ist es vielleicht so, dass ich solche unklaren Situationen wie die bei der Arbeit suche und absichtlich zu meinem Nachteil interpretiere, um meinem früheren Gefühl der Unzulänglichkeit, Scham, Ohnmacht und Angst ein Ventil zu schaffen? Also brauche ich solche Situationen geradezu, um die Gefühle hervorzulocken? Ist es das, was mit Wiederholungszwang gemeint ist? Als eine Art emotionale Erinnerungshilfe? Ich komme mir dumm vor, diese Fragen zu stellen, weil ich denke, ich müsste die Antwort kennen. Aber ich merke, dass ich, obwohl ich viele Zusammenhänge aus meiner Kindheit theoretisch verstanden habe, diese theoretischen Einsichten erst nach und nach mit Leben füllen und einigermassen nachvollziehen kann.

Zum Thema Hilflosigkeit und Ohnmacht fallen mir noch zwei Geschichten ein. Vor einigen Jahren hat meine Mutter in meiner Abwesenheit ein paar Möbel in meiner Wohnung umgeräumt. Ich habe mich aufgeregt und war fertig mit den Nerven. Wie konnte sie das tun! Vor allem meine Mutter! Sie war eigentlich diejenige, die im Gegensatz zu meinem Vater in der Lage war, die implizite Botschaft einer solchen Handlung zu verstehen! Aber meine Mutter fühlte sich nur zurückgewiesen und weinte. Mein Vater wurde dann irgendwann aufgefordert zu vermitteln und rief mich an. Er fragte mich, was denn das Problem sei, warum ich mich so aufrege, denn es sähe doch alles schön aus, wie meine Mutter das gemacht hätte! Das verschlug mir die Sprache. Ich habe versucht, ihm zu erklären, dass es nicht um die Güte des Möbel-Umräumens geht, sondern darum, dass sie in meine Privatsphäre eingedrungen ist und meine Wünsche völlig ignoriert hat. Das verstand er nicht. Und meine Mutter offensichtlich auch nicht, was mich fast noch mehr entsetzte.

Letztes Jahr hat meine Schwester dann ein Familien-Treffen organisiert. Mein Vater schien nicht sonderlich interessiert daran und war nicht bereit, meiner Schwester einen konkreten Termin zu nennen, wann er Zeit hätte. Dann hat meine Schwester irgendeinen Termin gewählt und alles organisiert. Es stellte sich später heraus, dass er an dem Wochenende des Treffens (nicht an dem Abend selbst!) schon etwas vor hat und dass ihm das zu viel war. Dann ist er völlig ausgeflippt und hat sie angeschrien und meinte, sie könne ihn doch nicht einfach aussen vor lassen, weil er doch sonst unsere Familienfeste immer alle bezahlt hätte. Da fällt einem doch nichts mehr zu ein! Er hat immer bezahlt! Als ob das eine Rolle spielen würde! Meine Schwester war völlig fertig. Leider war ich zu dem Zeitpunkt noch der Ansicht, dass mein Vater halt so ist und man ihn so nehmen müsse, wie er ist. Inzwischen habe ich meiner Schwester gesagt, dass ich das Verhalten meines Vaters unmöglich finde und “oh Wunder“ das Verhältnis zu ihr hat sich deutlich gebessert. Viele der Sachen, die mich früher an ihr genervt haben, zeigt sie gar nicht mehr bzw. ich sehe sie in einem anderen Licht.

Dann habe ich noch eine Frage. Ich habe den Brief von Herrn R.H. nach dem Brief seines Bruders auch noch einmal gelesen. Herr R.H. schreibt über seinen Therapeuten, dass er auf Fragen immer mit Gegenfragen geantwortet hat wie: “Warum beschäftigt Sie das jetzt?” Ich finde das Verhalten des Therapeuten auch schrecklich. Denn durch solche Gegenfragen werden die Gefühle einer Person in Frage gestellt und nicht ernst genommen. Ich habe aber auch festgestellt, dass ich mir ständig solche Gegenfragen stelle. Sobald ich irgendeine negative Empfindung habe, frage ich mich, was mir die Empfindung über mich sagt und darüber, wie es um meine Moral und Integrität bestimmt ist. Ich merke, wie ich mich durch diese Fragen mir selbst entfremde, neben mir stehe und meine Gefühle nur indirekt erlebe. Aber ich dachte auch immer, dass dieses Hinterfragen wichtig ist, um zu verstehen, was mich umtreibt. Durch das ständige Fragen nach dem Warum habe ich doch erst gemerkt, dass etwas nicht in Ordnung ist. Wie passt das zusammen?

Über eine Antwort würde ich mich sehr freuen!

Herzliche Grüsse, S. R.

AM: Danke für Ihren Brief. Die Warum Fragen sind nützlich, wenn Sie Ihre Suche nach Ihrer Geschichte unterstützen: Warum fühle ich mich so böse? Weil man mich als böse bezeichnet hat, wenn ich eigene Bedürfnisse zeigte? Wer tat das? Der Vater? Die Mutter? Wann? Dann und dann… Da kommen die schmerzhaften Erinnerungen. Aber moralische Spekulationen nützen nur der Abwehr der Gefühle.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet