Endlich erlebter EKEL
Thursday 07 December 2006
Liebe Alice Miller,
ich bin so erfreut über Ihre so schnelle Antwort. Ich möchte Ihnen danken.
Vor allem empfinde ich es als “Freispruch”, ich bin nicht mehr die Angeklagte die auf eine milde Strafe hoffen muss…
Ich hatte mich allein zu sehr Kreis gedreht. Ich konnte die mir übertragene Verantwortung für etwas das ich nicht hatte als kleines Mädchen, nicht ablegen. Im stillen habe ich immer noch gedacht, ich hätte die Dinge wie sie waren verhindern können, ich hätte die Macht dazu…Und das ich zu alt bin um mich selbst leben zu wollen/können hat vielleicht auch etwas mit Selbstbestrafung zu tun?…
Mut habe ich, auch wenn ich schreckliche Angst habe und vieles noch nicht sehen kann, aber ich bin nicht feige, ganz bestimmt nicht…
Ein Auszug aus einem Gedicht von Erich Fried hat mir immer die Kraft gegeben:
Um Schönheit
[…]
Grauer um jede nicht aufgebrochene Stunde
wird unsere Zeit
unfreier unsere Welt
in Wirklichkeit nie mehr unser
wenn wir uns nicht losreißen lernen
(nicht von allem
aber von mehr
als die Ratgeber raten)
wenn wir nicht endlich offen zu tun beginnen
was wir geträumt haben vor dem bleiernen Tag
Gewiß:
Die uns warnen vor der Gefahr
sind erfahren
aber oft nur erfahren im Sich-Beugen
Keine Todesgefahr kann so groß sein
wie die Lebensgefahr
zu versäumen
gelähmt vom eigenen Zögern
die einzige Zeit
Als ich den Brief am Sonntag an Sie abgeschickt hatte, bekam ich in der Nacht ganz fürchterliche Migräneanfälle, mit Sehstörungen, Kopfschmerzen und ich habe mich im Laufe des ganzen nächsten Tages übergeben müssen. Ich wusste zunächst nicht womit das zusammenhängt, aber dann dachte ich an den Brief und mir wurde immer wieder übel. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen…Erst heute geht es mir wieder gut und ich kann essen und die Kopfschmerzen sind weg. War das vielleicht Ausdruck meiner Angst, das ich ein Tabu gebrochen habe, weil man über so etwas niemals sprechen darf…? Ich kann das noch nicht einordnen…
Ich habe Ihre Antwort auf meinem Nachttisch zu liegen und ich lese sie immer wieder. Ich habe die Kraft dazu nicht aufzugeben. Ich weiß, dass noch ein langer Weg vor mir liegt.
Ich danke Ihnen so sehr. C.
AM: Sie haben sich mit Ihrem Brief an mich die Erlaubnis gegeben, zu fühlen, und so wurde der Weg zu Ihren wahren Gefühlen offengelegt. Der so lange zurückgehaltene, weil verbotene Ekel ist hochgekommen, und Sie konnten ihn spüren und erbrechen. Das ist gut so. Sie sehen, dass Sie sich und dem kleinen Mädchen in Ihnen treu bleiben können und nicht daran sterben. Auch die Angst vor der Strafe haben Sie überlebt, und am nächsten Tag ging es Ihnen gut, noch bevor Sie meinen Brief erhalten haben. Sie werden es sicher schaffen, dem kleinen Mädchen ihr Recht auf ihr authentisches Selbst zurückzugeben, ihre Gefühle furchtlos zu erleben und bei sich zu bleiben. Sie ist NIEMANDEM schuldig, sich zu verleugnen und sich auf diese Weise zu zerstören. Das hat sie viel zu lange machen müssen, weil ihr reale Gefahren gedroht haben. Jetzt muss sie es nicht, weil diese Gefahren nicht mehr vorhanden sind.