Der Schwachsinn mancher Therapien

Der Schwachsinn mancher Therapien
Sunday 06 July 2008

Liebe Alice Miller,
liebe Barbara,

am 15. Dezember des vergangenen Jahres schrieb ich Ihnen einen Brief, in dem ich von meinen Erfahrungen in einer psychotherapeutischen Tageseinrichtung berichtete; hernach las ich ihr Buch “Abbruch der Schweigemauer” (1991), in dem ich meine eigenen Erfahrungen tatsächlich bestätigt sehe.
Auch heute – 17 Jahre nach dem ersten Erscheinen dieses Buches – ist alles immer noch so, wie Sie es beschreiben. Mich beschäftigt diese Erfahrung immer noch sehr, weil ich verhindern möchte, dass sich der Schwachsinn, der dort geredet wurde, in mein Gemüt senkt und meine Erkenntnisse über mich selbst und über die Wahrheit bedroht. Also habe ich beschlossen, meine Erfahrungen in diesem Leserbrief zusammenzufassen und Ihnen zu schreiben, weil ich mir vorstellen kann, dass es viele Leser gibt, denen es ähnlich ging oder geht.

Das, was ich heute rückblickend als erstes sagen kann,ist, dass ich in diese Einrichtung von Anfang an nicht hineingepasst hatte, denn ich hatte von vorne herein einen ganz anderen Zugang zu psychischen Leiden und auch eine ganz andere Zielvorstellung.
Viele Patienten dort redeten geradezu gebetsmühlenhaft davon, dass man “Grenzen setzen” müsse, sich selbst nämlich und Anderen. Ich begriff von Anfang an nicht,was diese Leute damit meinten.
Für mich ist das Vorhaben der Befreiung des wahren Selbst und das Setzen von Grenzen paradox.
Also musste man in dieser Organisation anscheinend irgendein anderes Ziel verfolgen – die Frage war nur, welches Ziel war das?
Hernach fiel mir die seltsame Oberflächlichkeit dessen auf, mit der dort über die Fragen des Lebens gesprochen wurde, die aber aus der Sicht der Klinik geradezu geniale Einsichten waren.
Auch wie die psychische Realität von Patienten ausgedeutet wurde, war dazu angetan, meinen Argwohn zu wecken. So berichtete eine Patientin davon, dass sie während einer stationären Behandlung mit zwölf Elektroschocks “behandelt” worden war und beklagte die jetzigen Gedächtnisstörungen.
Der Therapeut deutete daraufhin: “Da haben Sie eben Energie gebraucht”. Elektroschocks bringen also Energie für Körper und Seele. Eine andere Patientin berichtete von einem Traum, in dem sie vor einer Brücke stand, die über einen tiefen Abgrund führte. Diese Brücke war weitgehend durchlöchert.
Die Therapeutin deutete daraufhin, dass es sich wohl um Operationserinnerungen aus der Kindheit handeln müsse (die Patientin hatte einige Operationen in ihrer Kindheit hinter sich). Diese Deutung erschien mir unlogisch. Natürlich sind Operationen in der Kindheit ein Trauma, aber es ist kein Trauma, das man leugnen müsste und darob eine seelische Störung entwickeln muss. Es ist nicht verboten zu wissen, dass diese Operation schlimm war, aber es ist verboten zu wissen, was die Eltern getan hatten.
Ich sah in dieser Brücke eine durch elterliche Traumatisierung “durchlöcherte Persönlichkeit”, die sich nur sehr mühsam vor dem Absturz in den Abgrund rettete. Aber auf dieser Deutung zu beharren wäre sinnlos gewesen, ist man doch sonst in den Augen der Deutenden totalitär.
Ein anderer Patient berichtete davon, wie er als Junge auf einem vereisten Teich eingebrochen und fast erfroren oder ertrunken wäre. Mit diesem Ereignis wurde ein Traum assoziiert, in dem der Patient sich selbst auf Zwergengröße geschrumpft in einem Raum sah, dessen vier hoch aufragende Wände sich auf ihn zubewegten. Außerdem ließ der Patient uns wissen, dass er eine “sehr, sehr glückliche Kindheit” gehabt habe. Niemand unternahm etwas, um dieses offensichtlich fehlerhafte Bild zu korrigieren.
Vier Wände, die sich auf einen Zwerg zubewegen, können keine Eisschollen sein, sondern gefährliche, erdrückende und machtvolle Erwachsene.
Ich selber geriet auch über einige Deutungen in pures Staunen, die in bezug auf meine Träume oder auf meine Lebensgeschichte getätigt wurden. Während eines Aufnahmegesprächs mit dem leitenden Arzt der Klinik fragte mich dieser, nachdem ich ihm erzählt hatte, dass ich mit einem Mann in einer Partnerschaft lebe, ob ich denn die berufliche Tätigkeit meines Vaters “ästhetisch” fände.
Diese Frage ist mir bis heute ein Rätsel, und ich wusste gar nicht, was ich dazu sagen sollte, denn diese Frage ist völlig irrelevant. Dem späteren Therapeuten berichtete ich von einem Traum, den ich als 19jähriger – kurz nach dem Verlassen des Elternhauses – wiederholt träumte, der im Wesentlichen meine Angst zum Ausdruck brachte, wieder zu den Eltern zurück zu müssen. Dazu sagte er: “Ja, sie mussten da ja auch alles alleine machen”. Damit wollte er wohl zum Ausdruck bringen, dass der Traum einen Wunsch artikulierte, zu den Eltern zurückzukehren – aber dies begriff ich erst, als ich in Jeffrey Massons “Die Abschaffung der Psychotherapie” von der seltsamen Angewohnheit von Tiefenpsychologen las, z.B. Ängste von Patienten als Wünsche umzudeuten.
Eine andere Eigenartigkeit war, das sog. “Aufrichten der guten Objekte”, wovon Sie auch in “Du sollst nicht merken” schreiben. Welchen therapeutischen Nutzen das haben sollte, erfuhr ich nicht; auch nicht, weswegen jemand daran kranken sollte, die “guten” Seiten seiner Eltern nicht sehen zu wollen.
Was mir ebenfalls auffiel, war etwas, das im Grunde auch in psychotherapeutischen Fachkreisen als unprofessionell gilt: Aus der “Diagnose” wurde nur allzu oft deduktiv das Verhalten des Patienten ausgedeutet. So bestätigt die Diagnose die Behauptung, der Patient sei in seinem Verhalten pathologisch und hieraus wird wiederum die Bestätigung der Diagnose geschlossen – ein Zirkelschluss also. Dass der Patient sich oppositionell verhält, weil über der Behandlung der Geist des Schwachsinns kreist – diese Einsicht kommt dort niemandem, denn man hat für solche Fälle direkt die passende Deutung parat: Der Patient hat einen “Autoritätskonflikt”.
Man sagte mir, meine Neigung, insbesondere körperliche Symptome sehr genau zu beschreiben, sei Audruck von “Zwanghaftigkeit”.Ich staunte, weil mir nicht klar war, weswegen niemand sah, dass durch das körperliche Leiden doch das eingekapselte Trauma spricht.
Auch wurden Proteste von mir gegen den Mangel an Empathie des mir zugewiesenen Therapeuten zu einer “konfrontativen” Therapiesituation umgedeutet, ohne infrage zu stellen, ob die Klinik wirklich im Recht war.
Andere Patienten berichteten mir, dass in ihrer Gruppentherapie der Therapeut mit Vorliebe chinesische Sprichwörter zitierte und ihnen nicht klar war, inwieweit das hilfreich sein solle.
Blumengießen gilt auch als Therapie, ebenso wie das Polieren von Specksteinen oder Buchbinden, und ich konnte meine Erheiterung darüber nicht verbergen, als ich davon erfuhr. Viele Patienten verlassen die Klinik, ohne überhaupt nur ansatzweise Zugang zu ihrer Kindheit erlangt zu haben, im Gegenteil ist ihnen sogar nahegelegt worden, “Sonnenscheintagebücher” zu führen: sie sollen also das Schöne, das sie jeden Tag erlebt haben, in Erinnerung rufen und damit die Depression verscheuchen.

“Wohlfühlen gegen das Böse” könnte man das vielleicht sarkastisch bezeichnen. Niemand scheint sich zu fragen, ob sich die negativen Empfindungen nicht so hartnäckig halten, weil sie gehört, und nicht verdrängt werden wollen. Patienten erfahren stattdessen, dass das Böse in der Welt nicht nur existiert -es hat sogar seinen Sinn, wobei nicht ausgeführt wird, was das Böse überhaupt ist oder welchen Sinn es haben soll.

Sie sehen, es ist ein Fass ohne Boden, ich könnte endlos fortfahren. Der Schwachsinn kennt keine Grenzen, wenn es darum geht, nicht dorthin zu schauen, wohin man schauen muss.
Eine Patientin, bei der ich spürte, dass sie eine sehr ähnliche Kindheit gehabt haben müsse und wo es auch gewisse lebensgeschichtliche Ähnlichkeiten gab, fuhr mich an, dass mein Hass auf meine Eltern nicht nur Ausdruck meines schlechten Charakters sei, sondern “die Probleme nur noch größer und mächtiger” machen würde, was “wissenschaftlich erwiesen” sei. Ich kann nicht umhin, dieser Patientin ein gewisses Bedauern entgegenzubringen, denn sie verbrachte acht Jahre mit einem “fast” rechtsradikalen Mann, von dem sie sich nur wegen einer kleinen Meinungsverscheidenheit trennte, und im Grunde zu ihm zurück will.Warum? Sie blendet sich über die wahren Eigenschaften ihrer faschistoiden Mutter, die sie, obwohl sie bereits tot ist, noch immer “liebt”.
Aber weil in der Klinik das vierte Gebot regierte, unternahm niemand etwas, um diese Wahrheit ans Licht zu bringen.

Ich grüße Sie beide herzlich, C. S.

AM: Sie sind erstaunt, dass sich so viele Patienten mit Lügen und Schwachsinn abspeisen lassen. Wenn man aber bedenkt, dass es die gleichen Lügen sind, die sie als kleine Kinder lernen mussten, für wahr zu halten, ist es wiederum gar nicht erstaunlich, dass sie in der Klinik jeden Unsinn akzeptieren. Es klingt in ihren Ohren nicht absurd, dass Vergessen und Vergeben ihre Depression heilen sollten, weil niemand ihnen bisher gesagt hat, dass es umgekehrt ist: dass die Depression die Folge dieser verwirrenden Lehren ist und sich auflösen lässt, wenn man diese Taktik durchschaut.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet