Vorbild WERDEN

Vorbild WERDEN
Tuesday 24 November 2009

——————————————————————————–

Sehr geehrte Frau Miller,

ich schreibe Ihnen heute zum ersten Mal, obwohl ich oft Ihre Homepage besuche und immer schon gespannt auf neue Leserbriefe warte.
Auf Ihre Bücher bin ich leider erst spät in meinem Leben gestoßen – da hatte ich die 40 schon überschritten. Nun bin ich 47. Aber wie sagt man so schön: Besser spät als nie!
Als erstes las ich „Das Drama des begabten Kindes“ und war zutiefst erschüttert. Was hatte ich bis dahin nicht alles durchgemacht! Nach der Erschütterung kam die Kraft – endlich hatte ich eine Erklärung, eine Bestätigung, sozusagen einen mutigen „Zeugen“ an meiner Seite.
(Wie sehr habe ich mich in meiner Kindheit, die ein einziges Grauen war, nach so einem Beistand gesehnt…)
Vieles hat sich seitdem in meinem Leben verändert. Ich MUSSTE sehr rigoros sein. Vor einem Jahr habe ich den Kontakt zu meinen sadistischen Eltern und meiner nicht minder sadistischen Schwester (die quält nun ungestraft ihr armes Kind) abgebrochen. Ich bin aus meinem Wohnort, an dem ich über 20 Jahre gelebt und gearbeitet habe, weggezogen. Ich habe meinen Beruf aufgegeben, der mir immer enorm wichtig war. Man könnte sagen, ich habe fast mein ganzes altes Leben aufgegeben. Nur meinen Sohn habe ich „mitgenommen“, und wir beide haben ein völlig anderes, neues Leben begonnen.
Das war (und ist!) ganz und gar nicht einfach – in jeder Hinsicht. Aber es geht mir gut dabei. Die schweren Depressionen haben aufgehört. Meine entsetzlichen Magenschmerzen, gegen die ich viele, viele Jahre lang tagtäglich Medikamente nehmen musste, sind schon wenige Wochen nach meinem Umzug abgeklungen – das war wie ein Wunder.
Ich vermisse nichts aus meinem alten Leben, auch wenn ich viel „Sicherheit“ aufgeben musste, auch wenn ich jetzt mit viel weniger Geld auskommen muss, auch wenn ich psychisch noch nicht ganz gesund und stabil bin. Gern würde ich anderen Menschen Mut machen, die sich vielleicht noch nicht trauen, einen solch rigorosen Schritt zu tun, obwohl ihnen ihr „Bauch“ (Gefühl) signalisiert: SO geht es definitiv nicht weiter.
Wir haben alle nur EIN Leben und stecken doch zu oft im falschen fest…
Sie, liebe Frau Miller, finde ich enorm mutig. So gegen den Strom schwimmen zu müssen und sich nicht unterkriegen zu lassen, das hat ganz einfach Vorbildcharakter. Wo findet man denn heute noch Vorbilder? Vielleicht kann man ja selbst eins sein… Zu tun gibt’s noch genug!
Gerade heute stieß ich auf eine Meldung im Internet, die mich wieder sehr wütend gemacht hat:
Die französische Zeitung „Dimanche Ouest France“ veröffentlichte die Ergebnisse einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts TNS Sofres. Es geht um ein Gesetz gegen die körperliche Züchtigung von Kindern.
Sage und schreibe
82% der Befragten sprachen sich gegen(!) ein solches Gesetz aus.

45% sehen in körperlicher Züchtigung „einen Weg, Kindern Respekt beizubringen“,

67% haben ihren Kindern „schon einmal einen Klaps gegeben“
davon 46% „ausnahmsweise“
2% „oft“.

Weiter heißt es:
Frankreichs frühere First Lady Bernadette Chirac sei der Ansicht:
„Wenn ein Kind unausstehlich ist, schadet es ihm nicht, wenn es den Hintern voll bekommt.“
(Die Schläge dürften aber „nicht zu fest“ sein und „nicht zu lange dauern“.)

Wie war das mit den Vorbildern?

Aber ich möchte meinen Brief nicht so pessimistisch abschließen. Immer wieder in meinem Leben habe ich die Erfahrung gemacht, dass Mut und Beharrlichkeit eines Tages zum Ziel führen. Wenn man dann noch Verbündete hat, etwas Geduld mitbringt und auch den Humor nicht ganz verliert – was soll da noch schiefgehen?! Wir sind auf dem richtigen Weg.

Ihnen, liebe Frau Miller, herzlichen Dank
für Ihren Mut,
Ihr unermüdliches Engagement,
Ihre Ehrlichkeit
und Ihren unverzichtbaren Beitrag auf dem Gebiet der Psychologie.
Toll, dass es Sie gibt!

Herzliche Grüße aus Berlin
sendet Ihnen HS

AM: Ja, es gibt kaum Vorbilder auf diesem Gebiet, Sie sehen ja, welchen Schwachsinn diese Frau von hoher Autorität von sich gibt. Und schämt sich nicht einmal, so ignorant zu sein. Also muss man selber zum „Vorbild“ werden, wenn man etwas Wichtiges verstanden hat. Und Sie scheinen sich in dieser Richtung zu bewegen. Nur nicht schweigen!

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet