Tragischer Mangel oder Schuld

Tragischer Mangel oder Schuld
Wednesday 28 October 2009

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Liebe Frau Miller,

ich habe ihren Rat beherzigt. Es ist etwas dabei herausgekommen. Im Grunde wusste ich die Richtung selbst, wohin ich mein Gefühl richten sollte, seitdem Sie mir Kafka als Zeugen empfohlen hatten. Es gibt im Kafka Kapitel in „Du sollst nicht merken“, einen Satz, der sinngemäß so ist, dass es zwar tragisch sei, wenn eine Mutter ihr Kind nicht lieben kann, aber keine Schuld der Mutter ist. Dieser Satz hat mich erschreckt. Diesen Satz wollte ich nicht haben und am liebsten hätte ich ihn wieder vergessen. Aber scheinbar hat mich der Sinn dieses Satzes nicht vergessen, weil ich ihn von Anfang an in mir trage.

Traum:

Ich fahre mit zwei Erwachsenen in einem kleinen Auto. Ich sitze auf der Rückbank und rede. Ich rede und schaue aus dem Fenster und unser Ausflug gefällt mir. Es ist Herbst und die Blätter an den Bäumen sind verschwunden. An der Straße steht plötzlich ein Baum, der noch Äpfel trägt. Ich freue mich und rufe und gestikuliere und meine Fahrer halten an und ich steige aus und laufe zu dem Baum, während meine Eltern sitzen bleiben. Sie schauen nicht, wohin ich laufe. Sie bewegen sich nicht. Ich freue mich, dass es noch Äpfel gibt und springe. Ich bin jetzt am Baum, es ist ein kleiner, alter Apfelbaum, der schon lange nicht mehr zugeschnitten worden ist. Knorrig, und seine kleinen dünnen Äste sind mit Flechten und mit Moos bewachsen. Neben den Äpfeln, die alle klein und verschrumpelt sind, hängt ein riesiger Apfel in der Form einer exotischen Frucht mit Stacheln. Ich deute auf die große Frucht. Dann schaue ich zum Auto zurück, wo meine Mitreisenden unbeweglich im Auto sitzen. Sie bewegen sich nicht, kein bisschen. Ihre Gesichter sind nicht erkennbar. Ihre Kleidung ist schwarzgrau und fransig und rupfig, als wären sie länger im Wasser gelegen. Ich berühre den großen Apfel und merke, dass er nur eine Hülle ist, dass der Apfel innen völlig hohl und leer ist, dass das Fruchtfleisch schon lange verfault und verschwunden ist. Jetzt erst sehe ich, dass auch dieser Apfel schrumpelig ist. Ich drehe mich und schaue in Richtung Auto. Die beiden sitzen immer noch unbeweglich da. Ich erschrecke.

Meine Mutter war niemals an meiner Hand, um mir aufzuhelfen, sie gab mir nicht die Hand, um mich zu führen oder zu beschützen. Meine Mutter war nie eine Heilige. Sie hat mich nicht verteidigt. Sie hat nur zugehört und zugeschaut und auch gelächelt. Sie hat mich den Schlägen meines Vaters überlassen und hat zugesehen, wie er mich schlug, und dann hat sie geweint. Sie hat nicht meinen Arm ergriffen und mich weg geführt, weg von meinem schlagenden Vater. Sie hat nicht gesagt: aufhören! Es gab für mich keine Sicherheit. Meine Mutter war so hilflos wie ich selbst. Sie hat mich nicht beschützt. Sie hat nicht meine Hand ergriffen. Sie hat sich tot gestellt, für sich und meinen Vater. Mein Vater hat mich halbtot geschlagen. Er hat mich hingestellt und dann vor ihren Augen geschlagen, dass ich niemals mehr wieder gegen ihn die Hand erhebe, noch einen Ton gegen das, was er für gut und richtig hält, sage. Ich habe der Macht meines Vaters geglaubt und aufgehört Widerstand zu leisten. Ich habe meine Mutter zu einer Heiligen gemacht, die sich aufopfert für ihren Gott, meinen Vater. Ich habe lange Zeit meine Mutter für eine Unschuldige gehalten. Zu dieser Zeit hatte ich die Schmerzen, die sie mir zugefügt hat, mit den Todesspielen, dass sie sich vor mir tot stellte, und mit ihrem Weggang ständig drohte, als ich noch sehr klein war, längst vergessen.

Heute weiß ich das alles wieder, wie sie ist und wie sie mir gewesen war und auch gewesen ist. Ich glaube, dass ich sie zu allen Zeiten für mich kenne. Das schmerzhafteste in mir, war die Wut, die ich trotzdem immer noch an sie richtete. Ich meine nicht die berechtigte Wut und meinen Zorn, der sich gegen ihre Spiele und ihre Taten und auch ihre Unterlassungen richtete, da bin ich wütend, zornig und gehässig und verachtend wie ein Kind nur sein kann. Da bin ich stark und mutig mit der Wut im Bauch und meinem Zorn.

Hier und jetzt meine ich die Verzweiflung und die Hilflosigkeit, in der sie mich beließ, und die sich nie verändert hat. Die gleiche Leere, die es immer war. Meine Hilflosigkeit und Wehrlosigkeit, die meine Mutter mit der gleichen Hilflosigkeit und Wehrlosigkeit ihrerseits beantwortete. Diese Art von Einsamkeit ist nicht zu füllen. Auch nicht mit Wut und Zorn. Hier ist jedes Wüten vergeblich. Es tritt keine Besserung ein.

Hier hilft kein Zorn. Hier hilft niemand, weil keine Liebe war. Hier ist die Todeszone. Hier bin ich also auch gewesen. Hier holte mich keiner raus. Hier war nur ich. Hier bin ich nach dem Zorn und nach dem Hass, und nach der Wut. Hier steht das Kind nach seiner Wut, mit leeren Händen da. In seiner Kindheit nun, und hat das Paradies gesehen. Den alten Baum und seine letzten Äpfel. Das war mein Kindheitsparadies. Mit meinen Eltern unterwegs. Ich habe mich so gefreut, dieses Paradies wieder zu finden, von dem alle reden und wohin alle immer wieder zurück wollen. Nichts von alledem ist wahr. Nichts was mir Menschen jemals über das Paradies erzählt haben, ist wahr gewesen. Nichts was mir Menschen von einem Kindheitsparadies erzählt haben, ist für mich wahr. Es sind alles nur Lügen gewesen.

Der dunkelste Bezirk den ich kenne, ist hinter der Angst. Nach dem Zorn und nach der grenzenlosen Wut, die mich beflügelt hat. Die mir den Mut verliehen hat, das letzte Bild der Kindheit, mein vermeintliches Paradies jetzt wieder zu sehen. Zu wissen und zu fühlen, was das Paradies des Elternhauses ist und was das für mich das ehemalige Kind bedeutet. Dass meine Eltern schlechte Eltern waren, weiß ich schon. Dass meine Mutter keine Heilige ist, auch schon. Dass mein Vater kein Gott ist, das weiß ich auch. Dass ich nichts, niemals etwas dafür konnte und dass ich ein unschuldiges Kind gewesen bin, das weiß ich auch. Was ich aber noch nicht wusste und nicht fühlen konnte, war, dass meine Mutter, die mich nicht lieben konnte, und dieser Vater, der mich geschlagen hat und auch nicht liebte, unschuldig sind. Dass wer nicht lieben kann, wirklich und tatsächlich nichts tut. Dass ein Mensch, der nicht lieben kann, nichts dafür kann. Er kann es nicht, er unterlässt auch nichts. Diese Wahrheit ist sehr schmerzhaft. Dass Lieben können ein Geschenk der Kinder ist, dass Liebe aus der Kindheit kommt.

Dass Eltern, die nicht lieben können, niemals sich ändern werden, weil sie nicht wissen können, was ihnen fehlt. Sie können sich nicht ändern, weil sie das Defizit nicht sehen und nicht spüren. Weil sie offenbar nicht sehen, was ihnen fehlt. Ich, das Kind, konnte sie nicht ändern. Sie wollten meine Liebe und meine Freude nicht. Mein Gefühl sagte ihnen nichts. Auch nicht mit Wut und Zorn und Hass und allem was es gibt. Meine Wut war völlig vergebens und ist es immer noch. Erst als ich sah, dass meine größte Wut, die älteste, der verzweifelte Zorn, der später mit den Zähnen knirscht, die älteste Liebesmühe des Kindes ist, verstand ich, dass diese rasende Wut mir helfen wollte, um den Schmerz, der von Anfang in mir gewesen ist, nicht fühlen zu müssen. Den Schmerz, plötzlich auf der Welt zu sein und nicht geliebt zu werden.

Ich hätte so gerne gehabt, dass es hier Schuld gibt, dass es einen Schuldigen gibt, den ich dafür belangen kann, aber tatsächlich finde ich keinen mehr. Wer nicht lieben kann, ist als Kind niemals geliebt worden.

Hier erst fällt jede Mühe weg, die nach der Liebe sucht und vergeblich ein Leben lang blindwütig weiter suchen muss. Das Kind, das sieht, dass seine Mühen vergeblich waren, ist jetzt frei und kann das Geliebt werden wollen von seinen Eltern endlich und für immer einstellen. Das ehemalige Kind kann endlich aufhören Liebe zu suchen, wo keine ist und wo nie eine war. Die Liebe hat nicht in meinem Elternhaus gewohnt.

AM: Ich denke, dass wenn Sie als Kind Ihre Mutter anschreiben, dürfen Sie sie für alles beschuldigen, auch dafür, dass sie Ihnen keine Liebe gegeben hat, worunter Sie ja unsäglich gelitten haben. Hingegen als Erwachsener wissen Sie, dass man nicht lieben kann, wenn man niemals Liebe erfahren hat. Doch der Erwachsene muss wissen, dass man sich schuldig macht, wenn man seine Kinder schlägt, demütigt und sonst irgendwie misshandelt. Diesen Vorwurf können und sollen Sie Ihren Eltern nicht ersparen – auch nicht als Erwachsener.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet