Ich will nur noch die Wahrheit

Ich will nur noch die Wahrheit
Friday 09 March 2007

Liebe Frau Miller,

Ich habe mir selbst mit Hilfe Ihrer Bücher schon unglaublich weiterhelfen können. Es ist mir vor kurzem gelungen, endlich zu meinen wahren kindlichen Gefühlen gegenüber meiner Mutter durchzudringen, und der Zwang, unerreichbaren Frauen verzweifelt hinterherzulaufen verschwand. Denn ich fühlte plötzlich, daß ich mein ganzes Leben nach einer guten Mutter gesucht habe, die ich niemals hatte. Plötzlich war mein Bedürfnis weg, in anderen diese gute Mutter zu finden! Eine unendlich befreiende Erfahrung. So etwas hätte ich niemals für möglich gehalten. Denn jetzt bin ich frei, eine echte Beziehung einzugehen, mit dem Mann, den ich liebe. Doch ich muß Sie noch einmal um Rat bitten. Es geht um meinen Vater. Meine wahren Gefühle für meine Mutter kann ich mehr und mehr fühlen, doch die Gefühle für meinen Vater muß ich noch immer abwehren. Ich will ihn kurz beschreiben, denn das schaffe ich schon, obwohl ich die entsprechenden Emotionen nicht fühlen kann, oder nur ansatzweise. Er war ein unendlich grausamer Mann, der uns schon als Babies auf Kopf oder Po schlug, wenn wir wütend wurden oder weinten. Er hat alles an uns kontrolliert, was wir essen, was wir anziehen, was wir denken. Ich habe inzwischen begriffen, dass ich schon als Baby verlernt habe, zwischen Schlägen und Zärtlichkeiten zu unterscheiden, Mein Vater hat nämlich sowohl geschlagen, als auch Zärtlichkeiten ausgetauscht. Mein Körper hat in seinen Augen ihm gehört. Am schlimmsten war es immer beim Essen, da hat er uns am häufigsten geschlagen, auf den Hinterkopf oder die Finger, zum Beispiel wenn wir nicht grade gesessen haben. Nach außen haben wir immer das Bild der perfekten Familie vermittelt, wahnsinnig intelligente Kinder, wohlerzogen und freundlich und höflich. Niemand wollte wissen, welchen Preis wir dafür bezahlt haben. Niemand wollte wissen, warum ich Angstzustände bekam, wenn sich jemand zu dicht neben mich gesetzt hat und warum ich Leute nur unter größten Ängsten umarmen konnte. Alle haben sich so lange ich zurückdenken kann, immer belustigt oder mich mitleidig angeschaut, wenn ich nur mit ganz stark eingezogenem Kopf jemanden vorsichtig zur Begrüßung umarmen konnte. Alle waren blind! Auch heute sind sie es noch, die Familie schützt das Andenken meines Vaters, auch meine Geschwister tun das, ich bin ganz allein mit meiner Wahrheit, doch meine Freunde helfen mir. Und Ihre Bücher!
Wie kann ich es schaffen, an meine Gefühle heranzukommen? Bei meiner Mutter ist mir das jetzt gelungen, ich habe dafür aber viele Jahre gebraucht, um jetzt die echten Qualen und den verzweifelten Wunsch nach der verfügbaren Mutter zu fühlen.
Ich bin voller Rachsucht und mörderischer Wut, und ich weiß, daß sich diese Wut gegen meinen Vater richtet, der längst tot ist, aber ich kann noch immer nicht die Hoffnung auf meinen beschützenden Vater, dem ich vertrauen kann, aufgeben. Ich weiß, daß ich diese Hoffung aufgeben muß, weil die Realität ganz anders war, und weil niemand jemals rückgängig machen kann, was dieser Mensch mir angetan hat. Aber ich schaffe es nicht, denn das bedeutet, daß ich schon als Baby ganz allein war, zwei Verrückten ausgeliefert, die mich umbringen wollten.
Woher kann ich den Mut nehmen, auch noch meinen Vater so zu sehen, wie er wirklich war? Herrgott, ich war ein Frühchen, meine Mutter war körperlich und seelisch einfach nie da, mit 2 Monaten haben die mich in eine Kinderkrippe gegeben, ich war dann die Mutter für meine Geschwister und für meine Eltern, meine depressive Mutter und meinen größenwahnsinnigen Vater. Sowas kann man nicht überleben! Wie soll ich diese Wahrheit aushalten? Wie können all die Kinder auf der Welt die Wirklichkeit aushalten? Die Kinder sind in der Hölle und alle sind blind! Aber die Wahrheit ist die Wahrheit, ob man nun will oder nicht. Woher kann ich den Mut nehmen, auch noch meinen Vater zu enttarnen?
Ich kämpfe jeden Tag mit der Versuchung, es zu machen wie er, und mich stark und mächtig zu fühlen, und andere dafür zu opfern. Aber wenn ich dieser Versuchung nachgebe, verliere ich meine Seele.

Viele Grüße, A. K.

AM: Sie kamen als Frühgeburt zur Welt, wurden mit zwei Monaten in die Kinderkrippe gegeben, später geschlagen und von einem sadistischen Vater verführt und gequält. Wenn ich höre, dass Sie trotz Ihrer schrecklichen Geschichte fähig waren, so viel Wissen zuzulassen, dann zweifle ich nicht daran, dass Ihnen auch der Rest gelingen wird. Sie werden ganz sicher die Gefühle des kleinen Mädchens entdecken, das so furchtbar ohne helfende Zeugen leiden musste. Diese Gefühle werden sich zuerst anhand gegenwärtiger Situationen melden (oder tun es bereits?). Da Sie aber fest entschlossen sind, das kleine ungeschützte Baby, das Sie einst waren, verstehen zu wollen, werden Sie deren Sinn immer besser entziffern können. Sie haben den Mut und die Klarheit, die es dazu braucht, so wünsche ich Ihnen nur noch viel Glück und gute Begegnungen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet