Das Heimkind erwacht

Das Heimkind erwacht
Monday 15 December 2008

Sehr geehrte Frau Dr. Miller,
Sehr geehrtes Miller- Team,

ich muss Ihnen einfach wieder schreiben.

Der Beitrag „das Joch der Schuldgefühlen“ löste eine Lawine aus – die – so scheint es mir – nicht aufzuhalten ist. Ich sehe plötzlich so klar und deutlich – was ich all die Monate, Wochen und Tage – ja, genau genommen Jahre nicht sah. Komme aus dem Staunen und gleichzeitig dem Entsetzen nicht mehr raus – wie blind ich mir gegenüber gewesen bin – wie brutal ich mit mir und anderen Menschen umgegangen bin, weil ich nicht sehen wollte – die letzten Monate waren reine Verleugnung, Verletzungen mir und anderen gegenüber.

Es war so unsinnig, solch eine vergeudete Zeit – nicht auf den zu hören, der mir nichts vorlügen konnte und wollte – mein Körper – er nahm rapide ab, kotze sich die Seele aus dem Leib (sorry – für den derben Ausdruck- es war derb) – und ich glaubte tatsächlich in diesem Zustand immer noch – meine Eltern hätten mich wenigstens ein klein wenig geliebt.

Indem ich endlich aufgab gegen die Wahrheit anzukämpfen schöpfte ich gleichzeitig eine neue Energie – mag sich irre anhören – dem ist aber so – ich muss mich nicht mehr belügen- ich muss keine Angst mehr haben, dass mich diese Wahrheit ins Bodenlose fallen lässt. Ich sehe sie mir an und stelle mit Erstaunen fest – der Boden tut sich nicht auf, die Wahrheit bringt mich nicht um…im Gegenteil – sie gibt mir eine wirklich neue Kraft. Ich kann es nicht richtig erklären.

Was gibt es an dieser Kindheit zu verleugnen?

Mein „Kreuz-Zug“ ins Leben begann wohl schon mit der Empfängnis- denn ich war absolut unerwünscht – ab der achten Lebenswoche folgten diverse Heimaufenthalte – da die Mutter sich ertränkte, der Rest meiner Verwandtschaft mich nicht wollte. An diese ersten Lebensjahre erinnere ich mich so gut wie gar nicht – hie und da ein paar Erinnerungen -ganz tief in mir weiß ich wohl, dass ich dort in den Heimen nicht körperlich misshandelt wurde – ich war dort wohl „nur“ Heimkind – welches man bedauerte, fütterte, säuberte -aber nicht schlug – welche seel. Ausmaße diese Aufenthalte angerichtet hatten, kann ich nur erahnen….soweit bin ich aber noch nicht um es näher zu beleuchten….dazu benötige ich noch weitere Angaben – die etwas mühselig sind zu beschaffen – es gibt keine lebende Zeugen mehr aus dieser Zeit – zumindest was meine Verwandtschaft betrifft – eine Heimerzieherin machte ich ausfindig – Dank hartnäckigem Nachfragen meinerseits.

Ab ca. dem sechsten Lebensjahr „zuhause“ unter der Obhut eines sehr gewalttätigen Vaters und seiner „Freundin“ einer Alkoholikerin – hiervon zu berichten würde den Rahmen sprengen – nur kurze Ausschnitte – sie war täglich betrunken- meine Schwester und ich mussten sie sehr oft ins Bett schleifen – auskleiden – wenn es ganz derb war auch von der Toilette holen wo sie im Rausch in ihrem eigenen Unrat eingeschlafen war. Wir (meine Schwestern und ich) sahen oft zu, wie sie sich sinnlos (oder vielleicht auch mit Sinn?) betrank….im Rausch stürzte, mit dem Messer auf uns losging – auch verprügelt wurde von unserem Vater. Ich schlief im selbigen Zimmer der beiden – was ich dort mitbekommen habe – habe ich scheinbar ganz tief in mir vergraben – auch hier kann ich es nur erahnen – und bin sicher – es erklärt mir meinen Ekel gegenüber meines Vaters den ich später sehr heftig verspürte.

Zu dieser Zeit (um genauer zu sein bis ca. zum 12 – 13 Lebensjahr) war ich übrigens Bettnässerin – was mir mit Ohrfeigen und diversen anderen Strafen versucht wurde auszutreiben. Auch trug ich das Kreuz des Todes meiner Mutter. Denn es war meine Schuld – nicht genug, dass mich meine Mutter nicht mit in den Tod nahm – nein ich war Schuld daran das sie sich ertränkte. Ein Schuldspruch, der mich bis Mitte Zwanzig begleitete.

Dass Verstorbene auch vom Grab aus noch eine Macht ausüben – erschreckt mich zutiefst. Hatte sie mich nicht unter Qualen geboren –hatte sie mir nicht dieses Leben geschenkt – wie kann ich es wagen sie zu beschuldigen? Wie kann ich es wagen ihr vorzuhalten mich nie gewollt zu haben – mir nie die Chance gegeben hatte ein lebenswertes Leben zu führen? Eine lebenswerte Kindheit erleben zu dürfen Ich weiß noch so gut, wie ich als kleines Kind an ihrem Grab gestanden bin – und musste beten für sie. Ich musste beten für sie – und war gleichzeitig schuld an ihrem Tode. Ich kenne sie nicht einmal – warum solll ich sie ehren?

Mit acht kam ich erneut ins Heim – ich war zu aufsässig, der letzte Nagel des Sarges für meinen Vater – auch hier verschuldete ich selbst, das ich ins Heim gekommen bin. Wäre ich brav gewesen – wäre das ALLES nie passiert. Es war das vierte Heim meiner Kindheit – in vollem Bewusstsein – es war die Hölle – nicht nur auf Erden sondern in Menschengestalt einer Dienerin Gottes. Sie bestrafte wo es nur ging und betete anschließend – das Essen musste gegessen werden – und wenn man es auskotze – gab es eine neue Portion – denn – es wird gegessen – was auf den Tisch kommt. Der Herr hat es gesegnet. Nächstenliebe in Form von maßloser Gewaltausübung. Es gibt heute bestimte Nahrungsmittel die ich weder riechen noch essen kann. Auch ist es mir unerträglich wenn ich länger und intensiv betrachtet werde.

Dieser Hölle entkam ich mit neun – um in einer neuen Hölle unterzukommen – meinem zuhause!
Auch hier Prügel, Schuldzuweisungen, seelische und verbale Misshandlungen – Schläge mitten ins Gesicht – der Abdruck von Fingern verdeutlichte die Wucht dieser Schläge – hart und erbarmungslos.

Ich benenne einen Ledergürtel „meinen Zeugen“ – ich habe ihn noch – warum ich ihn behalten habe – weiß ich nicht genau – instinktiv habe ich ihn nach dem Tode meines Vaters an mich genommen – heute jagd er mir keine Angst mehr ein – da er nie wieder weh tun wird.

Statt Dankbar zu sein – machte ich nur Ärger – und immer wieder diese Schuldzuweisung – du bist schuld am Tode deiner Mutter – hätte sie dich nur ertränkt, dann müsste ich nicht dieses Leid mit dir ertragen. Diese Schande, die du über mich bringst. Du bringst mich ins Grab- du machst mich krank. Schuld, Schuld…Schuld…immer und immer wieder.

Wie viel Schuld kann ein Kind aushalten/ ertragen- Können Sie mir darauf eine Antwort geben?

Als ich Mitte Zwanzig war starb er endlich. Ich weinte keine Träne – was mich wiederum zu einer undankbaren, harten und kalten Tochter abstempelte.

Tote haben „ein Recht darauf“, dass man sie mit Respekt und Achtung würdigt – nichts schlechtes über sie spricht – eine Art Heiligenschein- diesen anzugreifen, damit begibt man sich geradewegs wieder in die Schulden-Falle.
Was er getan hatte – war plötzlich vergeben – denn er war tot…… „und vergebe uns unsere Schulden – wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ …………nein – ich kann nicht vergeben und ich möchte nicht vergeben.

So jemand hat kein Recht auf diesen „Heiligenschein“ – hat kein Recht darauf mit Respekt gewürdigt zu werden. Denn er behandelte seine Kinder auch nicht mit Respekt – im Gegenteil er begegnete ihnen mit vollkommener Gleichgültigkeit, Erbarmungslosigkeit, Lieblosigkeit und vielen Gemeinheiten.

Mit diesem Spiel ist nun SCHLUSS – ich kann nur gewinnen – indem ich nicht mehr mitspiele.

Das Frau Dr. Miller war mir lange Zeit nicht klar – ich wollte es nicht in dieser erschreckenden Klarheit sehen – ich sah meine Kindheit, gestattete – mir aber keine Wut, keine Trauer und erst recht keine Empörung über diese Monster – weil ich niemals ein Kind sein wollte, das man nicht wollte – nun bin ich auf dem Wege mein Wissen auch gefühlsmäßig zu verarbeiten – meine Wut, meine Trauer hat einen Namen – endlich.

Je mehr ich mich erkenne/ verstehe – desto mehr sehe ich – was ich sehe macht mich sprachlos und oft wütend – es tut derart weh, dass mir die Tränen in die Augen schießen. Zu Anfang dachte ich – „achje – biste nun ganz sensibelchen geworden“ – nein – es ist gleichzeitig das spüren/fühlen können der eigenen Ohrfeigen als Kind – es brennt wie Feuer – und es lässt mich genau sehen, wie ich mir Stück für Stück mein Leben zurückerobern muss….es lässt mich erkennen, dass es nur schlimm ist – einem Kind die Kindheit zu nehmen -einem Kind – das sich nicht zur Wehr setzen kann so grausam zu begegnen.

Es lässt mich aber auch gleichzeitig zu einem vollkommen anderen Menschen werden – es fällt mir gravierend auf – ich bin anders – mir fällt die Reaktion meines Umfeldes auf -wie verniedlicht wird – wie geschickt manipuliert wird – mit welchem Aufwand der Wahrheit aus dem Wege gegangen wird. Ich habe ab und an das Gefühl momentan auf einem anderen Stern zu leben – es sind die selbigen Menschen – wie ich dachte – mir vertraute Menschen.
Manchmal erschienen mir Ihre Antworten „hart“ – Wahrheit auszusprechen kann hart wirken – wenn ich diese Wahrheit nicht anerkennen möchte. Wenn ich weiter verleugne…dann liest es sich hart. Sehe ich diese Wahrheit aber nun und lüge mir nicht weiter die Taschen voll – verlieren Ihre Antworten jegliche Härte.

Vielleicht klingt das alles noch etwas verworren – was ich auszudrücken versuche – mir fehlen noch die entsprechenden Worte – es ist so neu dieses Gefühl – auszusprechen was wahr ist, mit der Ablehnung meines Umfeldes hab ich mich mittlerweile „vertraut“ gemacht.

Ich danke Ihnen für Ihren Mut- für Ihre Ausdauer, für Ihre Unerschrockenheit dies ausgesprochen zu haben – es ermöglicht so vielen Menschen es Ihnen gleich-zu-tun – vielleicht noch zögerlich aber immer mutiger.

Ich wünsche Ihnen und Ihrem Team alles erdenklich Gute – eine schöne Vorweihnachtszeit und für das Neue Jahr Gesundheit, mögen viele Menschen auf Ihre Bücher und Homepage stossen und erkennen – denn es ist tatsächlich das größte Geschenk – sich Wahrheit zu schenken – erlauben Sie mir noch beizufügen, dass ich bis Mitte des Jahres nicht für möglich gehalten habe – diese Sätze auszusprechen.

Alles Liebe

S.J.

AM: Ihr Brief ist erschütternd, es tut alles weh, wenn man so viel Wahrheit aufzudecken wagt. Aber später lernt man, mit der Wahrheit zu leben, und es gibt ganz sicher eine Befreiung. Ich bin froh für Sie, dass Sie die schweren Schritte gewagt haben, die Kraft hatten, die Illusionen zu verlassen und neue Erfahrungen zu machen. Sie werden sicher davon profitieren und jeden Tag merken, dass Sie kein Heimkind mehr sind und das Recht haben, alles zu sagen, was Ihnen wichtig ist.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet