Wie teile ich mein Leid den Eltern mit?

Wie teile ich mein Leid den Eltern mit?
Wednesday 02 August 2006

Liebe Frau Miller,

heute starte ich einen zweiten Versuch. Meine Mail vom 31.05.2006 konnten sie wohl aus Zeitmangel nicht beantworten, oder vielleicht habe ich auch nicht genug über meinen Leidensweg berichtet. Ich war der Meinung, es nur beim Wesentlichen belassen zu müssen, um sie nicht allzu sehr in Anspruch zu nehmen. Nun lese ich aber, wie viel meine Leidensgenossen Ihnen schreiben und fasse mir jetzt ein Herz, das auch zu tun.

Ich wuchs als zweite Tochter (wieder nur eine Tochter) in einem Elternhaus auf, dass sich mir gegenüber durch Gefühlskälte und Ablehnung auszeichnete. Es wurde sehr viel Wert darauf gelegt, was die Nachbarn von uns dachten und es war bei Strafe verboten, die Eltern in irgendeiner Weise bei den Nachbarn schlecht dastehen zu lassen. Das hieß für meine Schwester und mich stets sehr vorsichtig mit dem zu sein, was wir von Daheim erzählten. Die Strafen für Ungehorsam und Aufsässigkeit waren drakonisch. Für das kleinste Vergehen, dass meinen Vater vor den Nachbarn hätte lächerlich dastehen lassen können wurden wir, vor allen Dingen ich, verprügelt. Zu diesem Zweck lag auf der Hutablage immer ein dünner Rohrstock, der den Namen Pfiffi trug, weil es so schön pfiff, wenn man ihn durch die Luft peitschte. Nun wurden wir nicht einfach so mit diesem Stock gezüchtigt, sondern wir durften uns, bevor es los ging noch selbst erniedrigen, indem wir uns das Gesäß entblößen mussten, um dann den Segen der Strafe zu empfangen. Wenn das vorbei war, mussten wir uns noch tränenreich für unser Vergehen entschuldigen, was insbesondere mir nach dieser erlittenen Folter, und für mich war das Folter, besonders schwer fiel. Ich sehe mich noch oft genug vor den Eltern stehen, Tränen überströhmt, schluchzend und am ganzen Körper vor Empörung und Angst zitternd und dennoch nicht in der Lage, die verlangte Entschuldigung auszusprechen. Das brachte mir dann das Prädikat VERSTOCKT und weitere Ohrfeigen ein.
Zu diesen körperlichen Misshandlungen gesellten sich immer wieder verbale und nonverbale Spitzen, die mich als hochsensibler Mensch bis tief in mein Iinneres verletzten.

Als ich konfirmiert wurde, gab es eine recht große Familienfeier. Allerdings war meine Konfirmation für meine Mutter nur der Aufhänger, mal wieder die Verwandtschaft einzuladen, was mein Vater ansonsten gar nicht mochte. So musste ich, die ich doch eigentlich die Hauptperson an diesem Tag hätte sein sollen, mit meiner Schwester und einem Cousin zusammen an einem kleinen Beistelltischchen abseits der Gesellschaft sitzen, während die Tanten und Onkel mit den Eltern am großen, schön geschmückten Tisch saßen. Wir hatten uns ruhig zu verhalten und die Großen nicht zu stören.

Als ich, damals noch mit 21 Jahren, volljährig wurde, waren meine Eltern kurz zuvor alleine in den Urlaub gefahren. Eine Feier gab es für mich auch im nachhinein nicht.

Überhaupt durfte ich ab einem bestimmten Alter, ich weiß nicht mehr wann das war, nicht mehr mit zu Verwandtenbesuchen. Es hieß immer, das wird der Tante oder der Cousine zuviel. In Wirklichkeit war ich meinen Eltern zuviel. Ich litt seit meinem fünften Lebensjahr unter dem Tourette-Syndrom, zwar nicht in seiner ausgeprägten Form, doch so, dass es auffällig war. Sie schämten sich für diese Tochter und wollten mich wohl deswegen nirgendwo mehr mit hinnehmen.

Mein Vater war zeitlebens, und ist es heute mit seinen 90 Jahren noch, ein sehr genauer Mensch, dem es niemand Recht machen konnte. An allen Dingen hatte er etwas auszusetzen, nichts war in seinen Augen gut genug und überhaupt konnte ihm, mit seinem umfangreichen Wissen und Können, keiner das Wasser reichen.

Als ich ein Teenager war, begann ich zu zeichnen, vor allen Dingen Pferdebilder, denn ich liebte Pferde. Ich kniete mich in dieses Hobby hinein und brachte es zu einer gewissen Perfektion, die mich mit Stolz erfüllte. Endlich konnte ich etwas, das mein Vater anerkennen musste, meinte ich jedenfalls. Voller Freude zeigte ich ihm die fertigen Bilder, in der Hoffnung nun endlich Anerkennung zu bekommen. Aber was kam? Er zerpflückte meine Bilder verbal. Hier stimmen die Proportionen nicht, da stimmt dieses nicht, dort jenes nicht. Ich war am Boden zerstört und habe ihm nie wieder eine Zeichnung von mir gezeigt.
Die Mutter hat sich immer aus allem raus gehalten, sie wurde vom Vater auch klein gemacht, als dumm bezeichnet und unfähig einen Haushalt zu führen. Was sie auch tat, sie tat es in seinen Augen falsch. Irgendwann hat sie sich ausgeklinkt und gar nichts mehr gemacht, was nicht unbedingt gemacht werden musste. Seitdem lebt sie in einer Traumwelt, völlig wirklichkeitsfremd und unglücklich. Und aus dieser Situation heraus lässt sie ihren Frust meist an mir aus.
Als meine Schwester und ich gleichzeitig mit unseren ersten Kindern schwanger waren, sagte meine Mutter zu uns: „Schafft Euch nur kein zweites Kind an.“ Ich war ihr zweites Kind. Dieser Ausspruch traf mich wie ein Hammerschlag.
Schon seit ich denken kann, hatte ich das Gefühl, eigentlich kann ich gar nicht das Kind dieser Eltern sein, sie müssen mich adoptiert haben oder sonst wie an mich gekommen sein, denn ein eigenes Kind behandelt man doch nicht so, wie sie es getan haben. Aber ich bin wohl doch ihr Kind, denn etliche Merkmale ihres Verhaltens erkenne ich manchmal mit Schrecken an mir wieder.
Diese Ablehnung meiner Person von Seiten meiner Eltern zieht sich durch mein ganzes Leben. Selbst, als ich schon lange verheiratet war und selbst zwei wundervolle Kinder hatte, haben meine Eltern mich noch verbal verletzt. Wenn zum Beispiel meine Schwester sie besuchen kam oder eine Cousine und ich den Wunsch äußerte, dabei sein zu dürfen, bekam ich die Antwort, das geht nicht, das wird mir alles zuviel. Dafür hast Du doch sicher Verständnis Kind, ich bin schon alt und soviel Trubel kann ich nicht mehr vertragen. Wenn die Mutter aber Geburtstag hatte, dann wollte sie möglichst alle um sich haben, um sich feiern zu lassen, dann war ihr das plötzlich nicht zuviel.

Nun, Frau Miller, nachdem ich einige Ihrer Bücher gelesen habe fühlte ich mich wie erlöst. Vieles wurde mir klarer und eine unbändige Wut auf meine Peiniger stieg in mir auf. Als Konsequenz brach ich innerlich den Kontakt zu meinen Eltern ab. Seit Anfang April 2006 habe ich mich nicht mehr bei ihnen gemeldet.
Meine Schwester berichtete mir gestern, dass die Eltern sehr unter dieser Situation leiden und gar nicht wissen, warum ich mich nicht melde. Sie hat dann vorsichtig versucht, Andeutungen zu machen, weil sie gefragt wurde, ob sie etwas weiß. Weil sie aber nicht sicher war, ob mir das Recht ist, hat sie nur gesagt, ich würfe den Eltern wohl mangelnde Liebe und fehlende Anerkennung im Kindesalter vor. Ab und zu ein Lob aus dem Mund der Eltern wäre wohl angebracht gewesen. Die Antwort, die mein Vater ihr darauf gab, hat mich zutiefst erschüttert. Er sagt: “Was hätte ich denn loben sollen? Es gab nichts zu loben.!“
Frau Miller, dieser Ausspruch meines Vaters hat mich nun wieder in ein tiefes Loch gestoßen. Die Tränen stehen mir in den Augen und ich bin völlig fertig mit den Nerven. Wie kann ein Vater, der von mir behauptet, dass er sicher ist, ich täte alles für ihn, wenn er es nur verlangen würde, wie kann dieser Vater so einen verletzenden Spruch loslassen?
In mir dreht sich alles. Ich möchte ihm am Liebsten alles ins Gesicht schreien, alles, was er mir angetan hat und ich möchte am Liebsten auch mit meiner Mutter abrechnen, ihr ihre kalte, lieblose Art entgegen brüllen. Aber ich kann nicht. Ich sitze vor dem Telefon und sage mir, jetzt oder nie. Und dann wird mir übel, ich beginne zu zittern, mein Blutdruck steigt und mein Tourette-Syndrom ist so heftig wie sonst kaum. Dann nehme ich den Telefonhörer und lege ihn wieder in die Station und rufe nicht an.
Ich merke aber, dass ich den Eltern irgendwie mitteilen muss, wie es in mir aussieht, dass ich sonst keine innere Ruhe finden kann. Ich weiß aber auch, dass meine Mutter von diesem Thema nichts hören will und sofort abblockt, wenn das zur Sprache kommt. Mein Vater kann aufgrund seines Alters trotz Hörgerät nur noch ganz schlecht hören. Es wäre also ein schwieriges Unterfangen, mit ihm ein solches Gespräch führen zu wollen. Auch kann er wegen des Grauen Stars kaum oder gar nicht mehr lesen. So fällt, was ihn betrifft, auch eine schriftliche Mitteilung flach.
Was soll ich nur tun. Ich bin momentan so hilflos. Wohl kann ich mit meinem Mann, den Kindern und auch mit meiner Schwester offen darüber reden, aber ich merke, dass es ganz wichtig für mich ist, meine Peiniger mit dieser Angelegenheit zu konfrontieren. Ich weiß nur nicht wie.
Können sie mir einen Rat geben, liebe Frau Miller?

Liebe Grüße, C. F.

AM: Auf keinen Fall sollten Sie versuchen, mit Ihren Eltern zu sprechen; Ihr Körper warnt Sie davor mit Recht. Man kann nicht erwarten, dass Menschen, die mit ihrem Kind nicht das geringste Erbarmen hatten, mit dem Alter humaner und klüger geworden seien. Und Ihr Vater zeigt seine Bosheit unverhüllt noch mit 90. Es ist richtig, dass Ihr Körper keine Gespräche will und Sie vor neuen Verletzungen schützen möchte. Nehmen Sie seine Botschaften ernst.
Ihre Kindheit glich einem Konzentrationslager, und Sie durften das nicht sehen, weil Sie mit diesem Wissen gestorben wären. Und niemand war da, der gesehen hätte, wie Sie gelitten haben. So musste Ihr Körper das Syndrom entwickeln, um auf Ihr Leiden aufmerksam zu machen, aber auch das hat nichts genützt. Nun haben Sie begreiflicherweise den Wunsch, darüber zu schreiben, damit Ihre Eltern – endlich, endlich – hinschauen. Aber das werden sie nicht tun. Alles, was Sie schreiben, weist darauf hin, sie zeigen null Einsicht. Hingegen können Sie vielleicht dem kleinen Mädchen schreiben, das Sie waren, und ihm JETZT die wissende Zeugin sein, die es so bitter vermisste. Schreiben Sie ihr alles, was Sie erinnern können und wie schrecklich das war, und fragen Sie sie, wie sie sich fühlte, als sie sich nach dem Schlagen entschuldigen musste. Decken sie in diesem Dialog die ganze Brutalität auf, erlauben Sie Ihrer Wut zu kommen und mit Entsetzen auf die Unmenschlichkeit zu reagieren. Es mag sein, dass sich das Symptom durch Ihre Erregung vorübergehend verstärkt, aber mit der Zeit wird es vermutlich verschwinden, sobald Sie Ihrer Empörung Worte geben und im Dialog mit dem kleinen Mädchen bleiben. Wenn dieses Kind jetzt einen Gesprächspartner in Ihnen findet, braucht es nicht mehr mit körperlichen Symptomen sprechen, es kann Worte benutzen, die nur Sie hören werden, weil Sie sie hören WOLLEN und offen bleiben dafür.

Das Team bittet um Entschuldigung, daß Alice Millers Antwort vom 1. Juni auf Ihren ersten Brief durch ein Versehen erst heute auf die Website gebracht wurde. Sie finden diese Antwort unter dem 1. Juni mit dem Titel „Die Angst vor der Angst.“

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet