Wir können wohl etwas ändern

Wir können wohl etwas ändern
Thursday 16 July 2009

liebe frau miller,

erst jetzt beginne ich eine ahnung von dem ausmass der schädigung durch
meine eltern zu bekommen. diese schädigung ist viel, viel grösser als ich
bisher angenommen habe, erkennen konnte/durfte. gleichzeitig tauchen in mir
endlich gefühle auf, grosses mitleid mit dem kleinen + grossen mädchen, dass
ich war + dass noch in mir ist. weinen, sehr viel trauer + zorn. ausserdem
gelingt es mir jetzt meine eltern ohne störende beschönigungen,
entschuldigungen, relativierungen zu sehen. das erleichtert mir die arbeit,
die qualen meiner kindheit + jugend ins bewusstsein zu holen, sehr. heute
bemerkte ich etwas – für mich – sehr, sehr, sehr überraschendes: als ich
bereit war meinen blick für diese „landschaft des grauens“ meiner kinder- +
jugendzeit zu öffnen, zuliess zu fühlen, was mir angetan wurde, DA begann
daneben mein verschüttetes selbstwertgefühl ein wenig zu wachsen!!! welch
ein ausserordentliches, wunderbares gefühl! welch ein riesengeschenk! ich
staune immer noch darüber…

vor drei wochen suchte ich erstmals hilfe bei einem psychologen, weil mir
der gewaltige zorn, den ich gegenüber meinen eltern fühlte, angst machte, so
dass ich befürchtete auszurasten, die wohnung zu zertrümmern o. mich o.
andere zu verletzen. dies hatte ich dem psychologen schon bei meinem
telefonanruf mitgeteilt + wiederholte es beim 1. gespräch. ich stellte keine
der fragen aus ihrem faque weil ich mit null therapie-erfahrung erstmal
wissen wollte, wie sich so etwas überhaupt abspielt. in der 1. stunde bat er
mich von mir zu erzählen, damit er sich einen kontext machen konnte. da er
auf mich einen sympathischen, freundlichen + scheinbar wirklich
interessierten eindruck machte (+ er mich auch an niemanden erinnerte), fiel
es mir leicht über alles zu sprechen was mir gerade in den sinn kam. u.v.a.
erwähnte ich den häufigen satz meiner mutter „du bist ein nagel zu meinem
sarg“. herr m. sagte „eine mutter, die zu ihrem kind sagt „du bist ein nagel
zu meinem sarg“, pflanzt ihrem kind unerbittlich schuldgefühle ein.“ ich
sagte „die kinder sind ein gefäss in das die eltern ganz nach belieben +
unbeschränkt ihren eignen müll reinkippen“, was er bestätigte. als ich
provokativ sagte „aber ich habe mich dafür zu verfügung gestellt“,
antwortete er „ein kind hat keine wahl. es kann nur sich selbst den eltern
geben“. diese sätze wurden zu einem schlüsselsatz für mich mit dem sich mir
ein ganzes panorama meiner schuldgefühle öffnete deren ich mir bis dahin
nicht bewusst gewesen war. mit hilfe dieser sätze konnte ich sehr, sehr viel
erkennen + beginnen verdrängte gefühle zu fühlen. die 2. gesprächsstunde
brachte mir nichts. ich plapperte über unwichtiges (die ehe) + danach war es
mir halb übel von meiner leeres-stroh-drescherei, dem verbalen
mich-im-kreis-drehen. in der 3. stunde fragte ich nach dem entstehen des
selbstbildes. herr m. war zuerst irritiert über meine frage + versuchte
auszuweichen. dann aber sprach er über die blicke der eltern in denen das
baby sich spiegelt + je nach art dieser blicke sind die informationen die
das baby über sich selbst empfängt, da es noch kein eignes bild von sich
hat. das war für mich nichts neues, das hatte schon mal gelesen. aber
endlich verstand ich, was sie, frau miller, mit der funktion eines
„wissenden zeugen“ meinen. ich war überrascht über die wirkung des
empathischen gesprochenen wortes. (Könnten sie vielleicht cds mit ihren
texten besprechen lassen???)

in der letzten woz las ich den artikel „Was das Überleben sichert“ von
florianne koechlin. sie ist biologin + sprach über evolutionsbiologie,
explizit über das buch der
evolutiontsbiologinnen eva jablonka + marion lamb. diese weisen nach, dass
evolution nicht nur auf einer (den genen), sondern auf vier ebenen
stattfindet: auf der genetischen, der epigenetischen, der kulturellen + der
symbolischen. beim lesen dieses artikels dachte ich, dass das genau ihren
thesen von der „vererbung“ der gewalt entspricht, auch wenn das in diesem
artikel nicht das thema war.
waren wir menschen von anbeginn gewaltätig gegenüber schwächeren, von uns
abhängigen? ich vermute erst als die menschen sesshaft wurden + besitz
anhäuften. irgendwoher müssen wir alle doch unser wissen von beschützen,
sich geschützt fühlen haben.

frau miller, ich liebe sie für ihren mut, ihre hartnäckigkeit, ihre
grosszügigkeit. dass sie sich – im gegensatz zu den meisten ihrer
kollegInnen seit freuds zeiten – nie ihr erfahrenes wissen ausreden liessen
trotz all der massiven anfeindungen + der unglaublichen ignoranz von fast
allen seiten. danke dass es sie gibt, tausend dank im namen aller kinder die
sie an ihrem wissen teilhaben lassen, – eine bessere welt ist möglich, es
liegt an uns allen sie zu schaffen!

allerherzlichste grüsse an sie + ihr famoses team, RB

AM: Ofenbar hatten Sie Glück mit Ihrem Psychologen, hoffentlich können Sie Ihre Arbeit mit ihm fortsetzen. Sie haben recht: Es liegt an uns allen. Wenn wir das AN UNS SELBST (und nicht nur aus Büchern) gewonnenes Wissen verbreiten, dann wird sich mit der Zeit vielleicht etwas ändern.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet