Warum sie uns töten wollten

Warum sie uns töten wollten
Sunday 09 March 2008

Liebe Alice Miller, liebe Barbara Rogers,
im Laufe der Aufdeckung und Aufarbeitung der Misshandlungen, die ich in meiner Kindheit erlitten habe, bin ich immer wieder an einen Punkt gestoßen, der mich mit Grauen erfüllt hat. Ich habe in den Erinnerungen an die Gewalt gespürt, dass meine Eltern und Brüder mich umbringen wollten. Sie hatten im wahrsten Sinne des Wortes eine Mords-Wut auf mich. Durch zahlreiche ähnliche Schilderungen anderer Menschen im Internet begann ich dieser Wahrnehmung zu vertrauen und es für möglich zu halten, dass sie mich umbringen wollten. Aber WARUM sie das wollten, habe ich nie verstanden. Beim erneuten Lesen von „Am Anfang war Erziehung“ fand ich die Erklärung: Der Hauptmechanismus der schwarzen Pädagogik: – Abspaltung und Projektion -, den ich erst jetzt, wo ich ihn auf meine eigene Geschichte beziehen kann, richtig verstanden habe. Gefühlsmäßig verstanden habe. Denn intellektuell hatte ich ihn schon vor 15 Jahren nachvollzogen. Meine Eltern wollten mich TÖTEN, weil ich sie schmerzhaft an ihre verdrängte Lebendigkeit erinnerte. An all die abgetöteten Gefühle, deren Kadaver ihr Leben vergifteten. Ihre unterdrückte Wut, Empörung, ihr Hass und ihre Rache erschienen ihnen durch mich als Gespenster ihrer Kindheit. Und diese Gespenster wollten sie umbringen. Die Gewalt diente also nicht nur der Machtausübung, sondern hatte tatsächlich die Triebfeder mich zu vernichten. Da sie mich nicht töten konnten, haben sie wenigstens meine Seele getötet, indem sie alles Lebendige in mir bekämpft, unterdrückt und „aberzogen“ haben.
Kinder in gestörten Familien haben also innerhalb der Familie die gleiche Funktion, die die Juden im Nationalsozialismus hatten: die Sündenböcke.

Liebe Frau Miller, dass Sie diese Mechanismen durchschaut, dies formuliert und veröffentlicht haben, ist ein unschätzbarer Dienst an der Menschheit und an der Menschlichkeit und ist gar nicht genug zu loben.
Ich danke Ihnen für Ihre Klugheit, ihre Empathie und ihren Mut.

K. B.

AM: Ihr Brief hat mich sehr erschüttert. Auch wenn ich es selber geschrieben habe, bin ich jedesmal erschüttert, wenn jemand diese meine Beobachtung mit seinen eigenen Gefühlen nachvollziehen kann. Es sind vielleicht deshalb die am meisten begabten Kinder, die den Hass der Eltern auf sich ziehen, weil ihre Lebendigkeit, Neugier, Intelligenz den Eltern vor Augen führt, was man bei ihnen erdrosselt hat. Doch leider spielt sich das alles im Unbewussten ab. Der Hass wird mit Liebesbeteuerungen verschleiert und mit Lügen „legitimiert“.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet