Belohnung für Sadismus

Belohnung für Sadismus
Tuesday 08 December 2009

Sehr geehrte Frau Doktor Miller,
in Ihrem Buch “Die Revolte des Körpers“ schreiben Sie “Schiller hatte immer wieder unter sehr schmerzhaften
Krämpfen an verschiedenen Organen zu leiden“, solche Krämpfe kenne ich auch sehr gut, sah diese aber nie im
Zusammenhang mit meiner Kindheit und dennoch, eine Erinnerung über die ich im Childhoodforum berichtete
zeigt mir heute eindeutig, dass diese Schmerzen gespeicherte Erinnerungen meines Körpers sind, ich schrieb:

“Urlaubsreisen wurden in meiner Kindheit zu einem von mir sehr gefürchteten Ereignis, sie waren eine schwere
Belastungsprobe für mich und meinen Bruder. Meine Mutter nahm bisweilen “das Gebaren einer Königin“ an, sie war davon überzeugt, etwas “Besonderes“ und “Einzigartig“ zu sein. Am Tag vor unserer Abreise blieb sie
oft lange auf und Koffer wurden dann von uns Kindern unter ihren wachsamen Augen und Anweisungen am
Tag der Abreise gepackt. Das Aufstehen fiel ihr sehr schwer, sie war voller Haß und Wut, wenn wir in ihren Augen “etwas falsch machten“, die Koffer nicht schnell genug packten (…) “ihr blöden nichtsnutzigen Gören, wegen euch kommen wir noch zu spät (…) ließ sie ihrem Mundwerk und ihrer Wut freien Lauf, wir packten, mein Vater schwieg, schleppte die Koffer zur Bushaltestelle. Es war ein fürchterliches Chaos und auch wir Kinder trugen schwere Taschen zum vereinbarten Treffpunkt, weil die Urlaubsreisen gemeinsam mit anderen Fußballspielern und ihren Familien vom Verein organisiert wurden. Meine Mutter packte weder Koffer, noch
trug sie Taschen, wir warteten an der Haltestelle auf sie und den Bus, der in der Regel drei Mal and der Halte-
stelle neu hielt (der Fahrer holte zwischendurch eine andere Familie ab). Das war wirklich sehr peinlich, wenn
wir dann in den Bus stiegen, dann schlug uns eisiges Schweigen entgegen, meine Mutter entschuldigte sich niemals für ihr Zuspätkommen, niemand wagte ihr offen die Meinung zu sagen, ihr gestörtes Verhalten schien
den anderen eine “Art Respekt“ einzuflößen, ihre Zunge war sehr gefürchtet, so habe ich es als Kind empfunden.

Niemand wollte während der 14 Tage mit unserer Familie etwas zu tun haben, wir blieben isoliert, wenn ihr der
Urlaubsort nicht “recht war“, dann durften wir die Taschen nicht auspacken, sie bekam heftige Wutanfälle, die bis zu drei Stunden dauerten und mein Vater versuchte dann immer sie zu “beschwichtigen“, wir warteten im Hintergrund – es waren sehr unschöne Szenen, die natürlich der Außenwelt nicht verborgen blieben.

Auch mein Bruder legte im Urlaub ein oft sehr aggressives Verhalten an den Tag, meist ließ er seine Wut an mir aus (einmal warf er einen größeren Stein nach mir, der Busfahrer fuhr mich mit dem Bus zum nächstgelegenem
Krankenhaus, meine Platzwunde am Kopf mußte geklammert werden), unsere Familie wurde gleichgesetzt mit
“Ärger machen“ bzw. “Probleme verursachen“, man ließ uns das Spüren, so habe ich es empfunden. Diese “Urlaubsreisen“ erfolgten so und ähnlich mehrere Jahre, ich habe versucht pünktlich zu sein, die Koffer am Abend zuvor gepackt (meine Mutter wollte das nicht, sie beschimpfte mich dafür, weil ihr “Wille mißachtet“
wurde). Nichts half und ich änderte meine Taktik, stieg eher in den Bus ein…aber ich hatte immer das Gefühl als der “Spion“ meiner Mutter gesehen zu werden, man warf mir wütende Blicke zu, es schlug mir eisiges Schweigen entgegen, ich hatte wirklich Angst vor dem Moment des Einsteigens.

In den Nächten vor unserer Abreise habe ich kein Auge zugetan, mein Asthma hielt mich wach bis in die frühen Morgenstunden. Ich schaute immer aus dem Küchenfenster und versuchte Luft zu bekommen, in der Hoffnung meine schlimme Atemnot wurde sich in den nächtsten Stunden geben, so das ich wenigstens Taschen tragen konnte, wenn meine Atemnot bleiben würde und ich nicht helfen könnte, dann fürchtete ich die Beschimpfungen
meiner Mutter, sie meinte immer ich würde absichtlich “simulieren“ um “Ärger zu machen“ und nicht helfen zu müssen…“

Die Gefahr körperlicher Züchtigung war an Tagen an denen wir ständig zusammen waren (Urlaub, Feiertage, Wochenenden) sehr viel höher als an Tagen, wo wir die Schule besuchten. Ich litt über Jahre hinweg genau
an diesen Tagen starke Schmerzen jedoch ohne sie im Kontext meiner Kindheit zu betrachten. Dazu schreiben
Sie in Ihrem Buch: “ Es steht für mich außer Frage, dass diese schweren Krämpfe auf die häufigen körperlichen Strafen in seiner Kindheit und auf die grausame Disziplin seiner Jugendjahre zurückzuführen sind“.

Diese Beobachtung habe ich auch an meinem Körper machen können und Ihre Antwort das “Erziehung so zu einem Machtkampf wird“ ermöglichte es mir, meine riesige (!) Angst vor meinen Eltern bewußt zu erleben und
mich so von ihr zu befreien. Es kommt für mich “einem Wunder gleich“ das damit auch meine starken Schmerzen nachließen.
Leider leide ich auch heute, insbesondere an Feiertagen (wenn auch in abgeschwächter Form) an körperlichen
Schmerzen, da ich mich aber von meiner enormen Angst befreien konnte, gelingt es mir sehr schnell mich in meiner Vorstellung in die Zeit meiner Kindheit zurückzuversetzen, mir bestimmte Situationen vorzustellen und dann sehr leicht in große Wut zu geraten, manchmal auch in große Empörung. Immer wenn ich das versuche, verschwinden zu meinem großen Erstaunen meine Schmerzen, es ist als ob ich sie “vergessen würde“.

Ihre Bücher haben mir mehr geholfen als all die unzähligen Medikamente, die man mir im Laufe meines Lebens verabreicht hatte, dafür kann ich Ihnen nicht genug danken! Ihnen und Ihrem Team wünsche ich ein (besonders!) schönes Weihnachtsfest. ML

AM: Es ist unendlich schmerzhaft, feststellen zu müssen, dass man sadistisch gequält wurde, oft Jahrzehnte lang, und diese Qualen mit Freundlichkeit, Fürsorge und Beherrschung BELOHNTE. Sie haben das mit Ihrer Mutter erlebt, aber offenbar erst jetzt realisiert. Ihr Vater hat Sie ja ständig verwirrt, zur Beherrschung ermahnt und ließ Sie glauben, das Verhalten Ihrer Mutter wäre normal gewesen. Sie wollten das glauben, weil es keine andere Mutter gab und weil Sie nur dank der Unterdrückung der Gefühle überleben konnten. Jetzt, da Ihre Gefühle erwachen, können Sie SPÜREN, was Ihre Mutter Ihnen angetan hat. Es ist gut, dass Sie es können, das gibt Ihnen den sicheren Zugang zu Ihnen selbst. Das beherrschte Kind wird endlich rebellieren dürfen. Dann verschwinden auch die körperlichen Schmerzen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet