Die Angst vor der Wahrheit
Thursday 21 July 2005
Sehr geehrte Frau Dr. Miller,
ich habe fast keine Erinnerung an meine frühe Kindheit. Eigentlich weiß ich fast nur die Geschehnisse, die mir erzählt wurden. Ich wußte auch nicht, daß ich schon bevor ich zwei Jahre alt war mit dem “Stöckchen” geschlagen wurde. So weit ich erinnere, glaube ich meinen Vater sehr geliebt zu haben, auch später, als ich größer war. Ich sei immer sehr schlimm gewesen, wurde mir gesagt. Wenn ich etwas getan hatte, daß ich nicht hätte tun sollen, habe ich es immer sofort zugegeben, während meine anderen Geschwister gelogen haben. Ich weiß nicht warum ich das getan habe, denn es stand ja fest, daß ich dann geschlagen wurde. Meine Eltern hatten mir wahrscheinlich irgendwie eingebläut, daß ich auf keinen Fall lügen dürfe. Das habe ich tatsächlich sehr lange durchgehalten. Mit etwa vierzehn Jahren habe ich dann gemerkt, daß mein Vater und meine Muttter die Wahrheit nicht so genau nahmen, also war ich auch nicht mehr ganz so ehrlich.
Einmal hat mir eine Tochter eines der Fabrikarbeiter, mit der ich befreundet war, gesagt, daß ihr Vater gestorben sei und ich war so entsetzt, daß ich sie unbedingt trösten wollte, also bin ich mit ihr in unseren Garten gegangen und habe sehr viele Tulpen und Narzissen für sie gepflückt und habe sie ihr mitgegeben. Ich war damals vier oder fünf Jahre alt. Es stellte sich aber nachher heraus, daß der Vater des anderen Mädchen gar nicht tot war. Sie hatte mich angelogen. Aber von meinen Eltern gab es natürlich ein furchtbares Strafgericht. Ich weiß aber nicht, ob man mir diese Geschichte erzählt hat, oder ob ich sie noch selbst erinnert habe. Ich weiß überhaupt nicht was der Grund dafür ist.
Ob es geschlechtlichen Mißbrauch gab, weiß ich nicht. Ich habe mich nur später gewundert, daß ich überhaupt kein Jungfernhäutchen hatte, wo doch alle meine Schwestern eins hatten. Es gab allerdings einen Sittlichkeitsverbrecher am Ort, der im Gefängnis gewesen war. Er wohnte zwei Häuser weiter und ich war schlecht beaufsichtigt. Von meinem Vater nehme ich einen geschlechtlichen Mißbrauch nicht an. Irgendwie scheint es zu seiner sonstigen brutalen Handlungsweise nicht zu passen. Aber seine Brutalität und seine Demütigungen genügen ja wirklich auch.
Mein Vater war wirklich sehr brutal und sehr verletzend, aber das habe ich als Kind wohl verdrängt.
Später habe ich dann überlegt, daß ich vielleicht doch nicht immer an allem Schuld sein könnte und habe zu meinem Vater gesagt: “Wenn Du mich weiter schlägst, dann gehe ich zur Polizei!” Darauf sagte er: “Wem meinst Du wird man glauben? Natürlich mir. Du kannst garnichts machen.” Das habe ich dann eingesehen. Ich wußte ich hatte keine Chance. Ich habe meinen Vater als sehr mächtig empfunden.
Als wir nach Argentinien ausgewandert waren, ging ich einmal mit meiner Mutter einkaufen. Man gab ihr zu wenig Geld zurück, also wandte sie sich an mich und sagte: “Nicht wahr Du hast es auch gesehen!” Ich war dreizehn Jahre alt, mit den Blicken und Gedanken ganz woanders und dann war ich noch sehr ehrlich und ich sagte der Wahrheit entsprechend: “Nein, ich habe nichts gesehen…” Auf dem ganzen Rückweg wurde ich von meiner Mutter auf das Übelste beschimpft, sodaß ich, als wir an dem Haus einer Freundin vorbeikamen, lieber dorhin ging. Als ich dann nach Hause kam, erwartete mich bereits der wutenbrannte Vater und verdrosch mich ganz furchtbar im Patio, sodaß sich meine Mutter dann schließlich dazwischen warf, weil sie Angst hatte daß er mich erschlägt. Er hat mit allem was er in die Hände bekam auf mich eingeschlagen.
Ich merkte dann, daß meine Eltern eine komplizierte Auffassung von Wahrheit und Lüge hatten und daß ich anscheinend nichts recht machen konnte. Ich hatte gedacht, man müsse immer die Wahrheit sagen. Als wir wieder in Österreich waren, wollte ich gerne nach dem Abitur Psychologie studieren, aber meine Eltern haben es mir strikt verboten. Ich studierte dann Philosophie in Wien. Das war erlaubt. Zu den Wochenenden fuhr ich nach Hause in die Wachau. Dort schleppte mein Vater mich jedes mal in das Warenlager und stellte mich dort auf die Waage, auf der sonst nur die großen Farbsäcke gewogen wurden. Ich war damals ziemlich schlank, denn ich wog 64 Kilo, bei einer Größe von 1,72 m. Trotzdem tat mein Vater so, als sei etwas mit meinem Gewicht nicht in Ordnung. Auch sonst wurde alles mögliche an meinem Aussehen kritisiert. Das Merkwürdige war, daß mein Mutter, die Malerin war, mich aber trotzdem oft malte und zeichnete und dann wurde mir gesagt in dieser oder jener Beleuchtung, oder im Profil, ja so wäre es gut. So bekam ich das Gefühl, daß man mich nur unter bestimmten Bedingung akzeptieren konnte. In jedem Fall schlanker als ich war und in jedem Fall nur bei bestimmten Beleuchtungen usw. Wenn ich Photos von damals ansehe, so wird ganz deutlich, daß ich eigentlich ein hübsches wohl proportioniertes junges Mädchen war. Die Fehler, die vielleicht doch jeder Mensch irgendwie hat, waren mir aber immer überdeutlich bewußt.
Ich war auch sehr unsicher, obwohl es genug Männer gab, die sich für mich interssierten. Ich hatte (und habe) trotzdem das Gefühl, ich sei nicht gut genug und sie würden es irgendwann merken. Als dann ein Mann sich sehr in mich verliebte, mich aber doch verließ, fiel ich in ein tiefes Loch und wußte keinen Ausweg mehr. Ich war verzweifelt und ich drehte den Gashahn auf. Aber anscheinend wollte ich nicht wirklich sterben, denn ich machte vorsichthalber ein Fenster auf! Außerdem wußte ich wann jemand kommen würde. Es war ein verzweifelter Hilferuf, denn mein Selbstbewußtsein war vollkommen zerstört.. Als ich dann psychologische Betreuung bekam, sagte die Psychologin schon in der ersten Sitzung, ich sei die Blumen auf dem Schreibtisch dieses Mannes gewesen, der mich verlassen hatte. Das fand ich nicht hilfreich und bin nicht mehr hingegangen. Als ich dann meinen Mann heiratete, sorgte mein Vater dafür, daß wir ungewöhnlich schnell getraut wurden. Wir kannten uns doch est ein Woche und ich hatte große Angst diesen fremden Mann zu heiraten. Wir waren zwar sehr verliebt, aber hatten außer der Liebe noch keine Gemeinsamkeiten entdecken können. Da mein Vater aber alle Töchter möglichst schnell los werden wollte, gab es keine ernsthafte Diskussion. Am Tag vor der Hochzeit, wurde ich übrigens nicht von meinem Vater geschlagen, sondern von meinem Bruder, der groß und stark geworden war und ja wußte, daß man das mit mir machen konnte. Später hat mein Vater mich oft im Norden angerufen, aber nach jedem Gespräch weinte ich. Er hat mich immer nur beschimpft. Als ich einmal, als längst verheiratete Frau bei meine Eltern war, kam mein Vater ohne anzuklopfen mitten in der Nacht tobend in mein Zimmer gestürmt und schrie mich fürchterlich an. Ich habe vergessen, was der Anlaß war, aber ich hatte plötzlich riesengroße Angst.
Wenn meine Mutter, die hohen Blutdruck hatte und eine sehr aufgeregte Person war, mich früher schlug, pflegte sie mich auch wüst zu beschimpfen: “Du Tier, du böses Tier…”waren eigentlich die meist verwandten Worte.
Ich werde diese Worte nicht los.
Auch pflegten meine Eltern zu sagen ich hätte von jeweils dem anderen Elternteil nur die negativen Eigenschaften geerbt.
Leider hatte ich durch meine Geschwister auch keinerlei Unterstützung, denn sie fanden es vollkommen normal daß ich geprügelt wurde. Lange später noch, als wir alle längst aus dem Hause waren, beharrten sie immer noch darauf, ich sei anders gewesen. Ich sagte dann, das könne schon sein, aber dürfe man denn nicht anders sein? Müsse man dann geschlagen werden? Als sie später die Geschichte, die mein Vater über mich geschrieben hatte, lasen, gaben sie allerdings zu, daß das nicht in Ordnung war. Ich habe sehr lange gebraucht sie zu überzeugen, daß ich schlecht behandelt wurde und daß es nicht recht war, aber in meinem Inneren habe ich diese Schuldgefühle und das Empfinden ich sei irgendwie seelisch und körperlich nicht in Ordnung und man könne mich nicht lieben. Diese Gefühl bin ich nie losgeworden.
Ich glaube, daß ich, da ich kein echtes Selbstbewußtesein entwickeln konnte, mich später mit meinem mächtigen Vater identifizierte. Da ich glaubte es nicht wert zu sein geliebt zu werden, wollte ich wohl wenigstens mächtig werden. Das war aber erst sehr sehr viel später, als ich schon längst verheiratet war und meine Ehe nicht gut funktionierte. Ich wußte nämlich nicht, was man machen muß, um geliebt zu werden und ich habe versucht das zu erreichen indem ich mich meinem Mann vollkommen
unterordnete und alles tat, was gut für ihn war. Es war kein echtes Leben, es war wie eine Rolle. Als mein Mann mich dann sehr schlecht behandelte und dauernd betrog, ging mein Selbstbewußtsein so in den Keller, daß ich nicht mehr wußte, wie ich mich retten konnte. Das war der Zeitpunkt, da ich wahrscheinlich begann mich möglicherweise mit meinem Vater zu identifizieren. Ich fing an leicht wütend zu werden und ich schlug auch zu. Irgendwann wurde mir klar, daß ich das nicht wollte, daß das ganz falsch war und da habe ich mich bei meine Kindern entschuldigt und versucht Ihnen zu erklären, warum ich so falsch gehandelt hatte. Was aber bleibt: ich habe meinen Kindern auch weh getan. Zwar nicht so schwerwiegend wie mein Vater, auch habe ich nie ein kleines Kind geschlagen, schon gar nicht unter zwei Jahren, aber dennoch: ich habe meinen Kindern auch Schmerzen zugefügt. Sie habe mir zwar fast alle verziehen (eine Tochter spricht allerdings nicht mit mir, was ich akzeptiere), aber die Demütigungen, die ich Ihnen zugefügt habe, werden vielleicht dennoch als Störfaktor unterschwellig bleiben.
Ich kann nur versuchen zu erreichen, daß die Verletzungen nicht an die nächste Generation weitergegeben werden und meinen Kindern so lange ich lebe meine Liebe zeigen. Möglicherweise ist das alles was ich tun kann.
Allerdings finde ich, daß ich selbst immer noch nicht in Ordnung bin, weder körperlich, noch seelisch.
Ich fange an zu begreifen, daß meine Eltern, besonders mein Vater mich nicht geliebt haben. Vielleicht weil sie selbst nicht geliebt wurden?
Sie haben sich aber nie bei mir entschuldigt. Sie haben nie eingesehen daß sie falsch gehandelt haben und sie haben sich bis zu ihrem Tod überlegen gegeben. Zudem habe sie alle Töchter, die ja samt und sonders lästig waren und schnellstens verheiratet wurden, nur auf den Pflichteil gesetzt und dem “Stammhalter” das gesamte Erbe überlassen und uns nochmals gezeigt, daß wir nur Mädchen waren. Mein Bruder ist jedoch sieben Jahre später gestorben.
Ich kann mich mit meinen Eltern und besonders mit meinem Vater nicht emotional auseinandersetzen. Es funkitioniert nicht.
Es kommt das Gefühl, ich müßte Ihnen verzeihen, sie hätten auch Gründe gehabt so zu handeln, sie seien vielleicht auch schlecht behandelt worden. Allerdings haben sie nie etwas Derartiges erzählt.Und das hätten sie bestimmt getan, wenn da etwas gewesen wäre, – denn sie waren beide sehr redseelig und schnell dabei jemanden zu beschuldigen.
Warum suche ich also nach Entschuldigungen für meine Eltern?
Mit vielen Grüßen, E.M.
AM:: Es ist mir offenbar nicht gelungen, Ihre Empörung zu wecken und Ihnen eine Auflehnung zu ermöglichen. Sie schreiben immer noch wie ein braves Mädchen mit philosophischer Nachsicht. Sie beschreiben die Fakten sehr klar, Sie fühlen aber nichts dabei. Emotionell warten Sie offenbar immer noch auf die Liebe Ihrer Eltern. Sie versuchen, sie zu verstehen, unterdrücken die von ihnen verbotenen Gefühle wie Wut und Empörung, und leben in der panischen Angst des kleinen Kindes vor der Brutalität Ihrer Eltern. So leben die meisten Menschen und stellen sich keine Fragen dabei. Doch Sie tun das, Sie haben uns geschrieben. Vielleicht ist dieses Schreiben der Anfang einer längst fälligen Auflehnung, auf die Ihr Körper wartet, um sich mit Hilfe der berechtigten, gesunden Wut endlich von den überflüssigen Kilos zu befreien. “Die Revolte des Körpers” sowie meine letzten Artikel und das Interview mit ONA können Ihnen eventuell dabei behilflich sein.
Wir veröffentlichen Ihre Briefe, weil sie vielen Lesern vor Augen führen könnten, wie diese mit ihrem Unglück umgehen und um welchen Preis. Sie zeigen deutlich, wie Ihre Toleranz Ihren Eltern gegenüber und der vollständige Mangel an Auflehnung und Zorn Ihr Leben zerstören und Sie dazu zwingen, dass Gewicht der elterlichen Verbrechen in Ihrem Körper zu tragen. Die 130 Kilo sind ja kaum etwas anderes als die Last der Misshandlungen, die an dem zarten, wachen und intelligenten Mädchen begangen worden.
PS: Ihr heutiger, folgender Brief und die Mitteilung, dass Ihr Körper eine Stunde geschwitzt hat, als Sie sich Ihren Vater als Monstrum vorstellen wollten, bestätigt meine Vermutung.