Kann man auch gute Erinnerungen verdrängen?

Kann man auch gute Erinnerungen verdrängen?
Wednesday 29 August 2007

Liebe Alice Miller,

erstmal vorweg: die von mir als positiv empfundene Entwicklung geht in Riesenschritten vorran. Das finde ich schön und genieße es sehr. Ich kann Ihnen gar nicht oft genug sagen, wie gut mir ihre Bücher tun und wie dankbar ich dafür bin. Viele Fragen beantworten sich durch Ihre Sicht der Dinge weiterhin „wie von selbst“.

Ein Fragenkomplex beschäftigt mich im Moment noch sehr, den ich noch nicht auszulösen vermag. Dass Menschen sich – nach einer gewissen Zeit – sich eher an schöne Dinge erinnern – als an Schlechte – war mir schon immer ein Rätsel. Das ist bei mir anders.

Fragen die sich mir dadurch stellen sind zum Beispiel: Hab es vielleicht einfach wenig positive Erlebnisse in meiner Kindheit? Aus welchen Gründen könnte ich möglicherweise „gezwungen“ gewesen sein positive Erlebnisse in meiner Kind- und Jugendzeit verdrängen? Falls es solche Gründe geben mag – verdecken die möglicherweise „verdrängten guten“ Erinnerungen – noch Schrecklichere? (Wobei ich denke, wenn jetzt noch ein möglicher sexueller Mißbrauch an die Oberfläche treten würde, würde das auch „nichts mehr machen“. Ob jetzt mit oder ohne sexuelle Komponente – meine Erlebnisse waren so schon schlimm genug – eine Hölle, die ich niemanden auf Erden wünsche.)Oder könnte es ein, dass mich die guten Erinnerungen mehr überfordert hätten
als die vielen Schlechten? „Durfte“ ich vielleicht positive Dinge nicht fühlen (so wie ich nicht begabt sein durfte), weil meine Mutter sich so sehr vor Lebendigkeit anderer fürchtete? Wodurch konnte ich mir dann aber diese Lebendigkeit tief in mir drin irgendwie erhalten? WIE aber „machen“ dass dann viele Andere – sich durch Verdrängung die Welt der Erinnerung „schön“ biegen? Habe ich vielleicht irgendwann schon als Kind erkennen können, dass Gefühle nicht töten, weil ich so vielen entsätzlichen Situationen ausgeliefert war? Habe ich meine Wahrnehmung vielleicht erst später angepasst um in der Gesellschaft „weniger“ (das ist mir nieee wirklich gelungen) aufzufallen?

Ich weiß bisher – was diese Fragen angeht nur: Ich habe sehr, sehr wenig gute Erinnerungen an meine Kindheit. War dennoch – oder grade weil? – blind gegenüber Menschen – die mir wirklich was Gutes tun wollten und ich kann mich nicht erinnern jemals Angst vor dem Tod – dem Sterben – gehabt zu haben. Ich hatte mehr Angst vor dem Leben.

Es wäre schön, wenn Sie mir diesbezüglich ein paar Literaturhinweise geben könnten. Vielleicht steht ja in einem Ihrer Bücher, die ich noch nicht gelesen habe, etwas darüber? Oder habe ich es vielleicht überlesen bzw. mögliche Antworten nicht wahrgenommen?

Viele liebe Grüße, E. N.

AM: Ich wüsste nicht, weshalb man schöne Erinnerungen verdrängen müsste. Es ist doch nur der Schmerz, der uns zur Verdrängung gezwungen hat. Aber der Gedanke, dass es so wenig oder nichts Gutes gegeben hat, ist natürlich auch schmerzhaft. Daher suchen Sie vielleicht nach „Literatur“. Es ist wunderbar, dass Sie den Mut haben, die Wahrheit zuzulassen und Ihre Gefühle zu leben. Die Angst vor der eigenen Lebendigkeit hat Sie ja so lange daran gehindert, weil man Ihnen diese und das Leben überhaupt, die Freiheit, die Freude, nicht gegönnt hat. Wie sollen da schöne Erlebnisse möglich gewesen sein? Vielleicht höchstens Naturerlebnisse, die nicht bedrohlich waren?

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet