Schilderung “Schwarze Pädagogik”

Schilderung “Schwarze Pädagogik”
Monday 18 June 2007

…dem Tod entronnen.
Bis ich als Dorfjunge in den 1970er Jahren endlich das Schwimmen erlernt hatte, war schon der Wechsel von der Haupt- zur Realschule vollzogen. Obwohl wir Kinder im Sommer jeden freien Nachmittag im dem dem heimatlichen Dorfe nahe gelegenen Kies-Weiher verbrachten, musste ich mich doch immer mit Schwimmflügeln und -reifen ins Wasser begeben, da ich einfach keine koordinierten Schwimmbewegungen hin bekam, und auch mein Körperfettanteil damals noch so gering war, dass mir dieses auch keinen großen Auftrieb verschaffte.
An einem heißen Nachmittag, der durch einen kräftigen Regenschauer eingeleitet wurde, fuhr ich zusammen mit einem Klassenkameraden und meinem kleinen, ca. 5-jährigen Cousin zu diesem Bagger-See. Wegen des vorausgegangenen Regens war hier niemand außer uns Dreien, der Abkühlung suchte. Das kam uns gerade gelegen, denn so konnten wir drei “Kleinen” das dort am Ufer liegende Floss der großen Jungs endlich für uns “kapern”. Mein Klassenkamerad Stefan stach als erstes damit erfolgreich in See. Da ich es kaum erwarten konnte, auch meine Schifferkünste auszuprobieren, drängte ich ihn vom Ufer aus, möglichst bald wieder den “heimatlichen Hafen” anzulaufen.
Als ich, damals noch Nicht-Schwimmer, dann endlich an mein Ziel kam, und meine Seetauglichkeit und meine Manövrierfähigkeit beweisen sollte, kam sogleich das große Desaster. Auch wenn das Ganze schon 30 Jahre her ist, kann ich mich noch an die folgenden Szenen erinnern, als wenn es gerade erst passiert wäre: Kaum einen Meter vom rettenden Ufer entfernt, kaum einen Paddelschlag getan, fiel ich auch schon tollpatschig, da ich bis dahin noch nie auf einer dermaßen schwankenden Unterlage gestanden hatte, das Gleichgewicht verlierend, ins für mich unheilbringende Wasser. Beim ersten Auftauchen war auch das rettende Floss, das ich wahrscheinlich mit einer einzigen kräftigen, gezielten Schwimmbewegung hätte erreichen können, schon für mich außer meiner ungeschickten Reichweite. Es ging wieder abwärts, unter Wasser. Ich sehe immer noch das vom Sonnenlicht gelb gefärbte Kies-Wasser vor meinem geistigen Auge, sehe beim erneuten Auftauchen die aufgeschütteten Kiesberge um mich herum, sehe meine verzweifelten Begleiter am Uferrand -hilf- und ratlos. Bange, von äußerster Verzweiflung erfüllte Minuten vergingen, in denen ich immer wieder in die für mich fatale Tiefe hinabgezogen wurde und zum kurzen Atmen wieder an die Oberfläche gelangte. Meine hektischen Paddelbewegungen schafften es nur mit größter Mühe und Anstrengung, die wenigen Sekunden auszudehnen, die ich zum Luftholen brauchte, um dem Kampf unter Wasser erneut auf mich nehmen zu können. Ich ging ca. 10 bis 15 Mal auf und unter, bis ich endlich sah, wie mein Schulkamerad, den von mir mitgebrachten Schwimmreifen von unserem Basislager auf einem der Kiesberge holte und mir dann zielgerichtet ins Wasser zuwarf – ein endlos sich hinziehender Vorgang, wie ich es empfand, der ich kaum mehr die Muskelkraft aufbrachte, die verzweifelten Schwimmversuche aufrecht zu erhalten. Die Prozedur des Auf- und Untertauchens wiederholte sich noch zwei bis drei Mal bis ich schlussendlich den zugeworfenen Reifen beim Auftauchen ergreifen konnte und diesen umklammernd mit letzter Kraft und die letzten Ernergiereserven aufbietend ans rettende Ufer gelangte.
Völlig erschöpft und in Decken gehüllt lag ich dann da, dem Tod gerade nochmal entronnen. Ein fremder Junge aus dem Nachbardorf tauchte aus dem Nichts auf und wollte wissen, was denn mit mir geschehen sei. Ich verbot ihnen allen, zuhause zu erzählen was hier vorgefallen sei, denn ich hatte tierische Angst, vor dem was mich beim Bekanntwerden dieses Erlebnisses daheim erwarten würde: mein Vater würde sich die Kehle aus dem Hals schreien, mich anbrüllen und mich aufs Übelste beschimpfen; und das Leben meiner Mutter, die immer meinte “das Leben ist halt ein Kreuz” würde durch dieses Unglück noch trauriger und verzweifelter werden.
Also schwieg auch ich, “vernünftig” – um meine Eltern zu schonen, und um auch mir eine potentielle, Ärger-bringende Ausweitung des Erlebten zu ersparen, bewältigte das beinahe finale Erlebnis depressiv mit mir selber, verschloss es in meiner Seele und beschloss das Ganze als erledigt zu betrachten, wenn nur ja niemand davon erfährt. Doch ich hatte die Rechnung ohne meine Begleiter gemacht, die natürlicher reagierten als ich, die das Erlebte zuhause berichteten und bis zum Abend gelangte es somit zu meinen Eltern: Ich kam in die Küche, wo meine Eltern zum Abendessen am Tisch saßen und holte etwas aus meiner Schultasche, die in der Ecke stand. Es kam die Frage meiner Mutter, die mir zu verstehen gab, dass sie Bescheid wusste: “Ward ihr heut im Weiher? Kann man denn da drinn auch “ersaufen”? Mein Herz schlug bis zur Belastungsgrenze als ich darauf das ehrliche “Ja” antwortete. Aber damit war die inquisitorische Einlage auch schon vorbei und ich wurde wieder weiter unbeachtet entlassen.
Erst zwei Jahrzehnte später sind mir durch die Lektüre der Bücher von Alice Miller die Augen darüber aufgegangen, wie respekt, würde- und lieblos meine Eltern hier mit mir umgegangen sind, welchen Wert – oder besser formuliert – Unwert sie mir hier meinem Leben gegenüber vermittelt haben. Als ich meine Mutter fragte, warum sie damals keine Freude darüber signalisierte, dass ich noch am Leben gewesen sei, meinte sie nur, dass sie zu der Zeit, als dies passierte, nicht gewusst habe, dass mein “Schiffbruch” so dramatisch verlaufen sei. Wenn ich von mir selber ausgehe und mir vorstelle, ich hätte einen Sohn, von dem man mir berichtet, er wär in eine Pfütze gefallen und hätte sich schwer getan, wieder heraus zu kommen, dann würde ich mein Kind in den Arm nehmen, ihn fest drücken, ihm sagen, dass ich froh sei, dass es ihn noch gibt und dass er bei mir ist. Von all dem habe ich nichts durch meine Eltern erfahren, es wurde einfach wieder in den sicherlich schweren Arbeitsalltag übergegangen und ich konnte als Kind sehen, wie ich selber damit zurecht kam, den Schmerz des Erlebten und der Verzweiflung zwei Jahrzehnte mehr oder weniger erfolgreich zu verdrängen.

AM: Das ist noch schlimmer als nur schwarze Pädagogik. Das ist doch ein totaler Mangel an Mitgefühl für das eigene Kind, das gerade dem Tod entkommen ist. Diesen Mangel an Empathie konnten Sie erst spüren, als Sie durch die Lektüre der Bücher zu fühlen begannen, dass Ihnen diese Empathie zugestanden wäre. Wie schrecklich muss ein Kind leiden, das dieses Bedürfnis gar nicht zulassen kann, vor lauter Angst, bestraft zu werden. Danke für Ihren Brief, vermutlich werden sich viele in Ihrer Geschichte wiederfinden, obwohl diese sehr extrem ist, beinahe sadistisch wirkt.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet