Ich verabscheue Sie, Alice

Ich verabscheue Sie, Alice
Wednesday 21 September 2005

(es handelt sich um eine Ubersetzung des Originalbriefes aus dem Französischen)

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Ich verabscheue Sie, Alice.

Für diese deutlich wahren Bücher. Weil ich so unglücklich bin, weil ich mich in der Falle und alleine fühle. Ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll. Ich übergebe mich. Und meine Eltern lassen mich sterben. Ja, sie schaffen es, dass ich mich fürchte, bis ich daran sterbe. Und Sie, Sie schreiben Bücher, Sie sagen: “Es gibt Lösungen, eine Heilung, niemand ist schlecht, es ist die Vergangenheit, die wieder auftaucht und uns zur Gewalttätigkeit drängt.” Ich will töten, wörtlich, sei es mich oder jemanden anderen. Und ich bin freundlich, sanft, verständnisvoll und im Inneren schreie ich, ich heule, ich rufe um Hilfe, aber niemand kommt. Und Sie verkaufen Ihre Bücher, bei denen niemand sich die Mühe macht, sie zu verstehen, wenn nicht ich, wenn nicht einige verlorene Seelen, die den Tag suchen. Aber der Tag kommt nicht. Einige werden Opfer von Alice Miller, ich bin eines. Ich spreche in Ihrem Namen, ” Alice Miller glaubt dies, glaubt das”, ich bin einverstanden mit Ihnen, aber ganz alleine kann ich Ihre Sache nicht verteidigen, ich bin völlig alleine. Ich bin gezeichnet von der Vergangenheit. Ich versuche, ganz alleine eine Primärtherapie zu machen, aber ich verzweifele. Ich bin alleine. Und ich zweifele bis zu dem Punkt dass ich damit enden werde, indem ich etwas Böses mache. Ich habe nichts, als auf die Anderen zu pfeifen. Ich hasse sie. Alle. Was ändert es, wenn Sie Recht haben, wo doch niemand kommt, um mir zu helfen. Wo ich doch im Grunde meines Herzens so schuldig bin. Ich rede gegen Mauern, gegen Mauern des Schweigens, wie Sie es sagen. Aber die Mauer stürzt nicht ein. Und wenn Sie ein wenig einstürzt, weil ich wie eine Verrückte gegen sie anschreie, bin ich nicht fähig zu empfangen, was dahinter ist. Ich weise die Verwundbarkeit der Leute zurück, ich verachte sie, ich hasse sie, niemand sieht meine … man lässt mich sterben.

Ich hasse Sie dafür, dass Sie existieren und die Leute verbannen, die wie die Deppen an Sie glauben, beim Lesen und Wiederlesen Ihrer Bücher. Die Leute lesen sie und hoffen. Sicher sterben einige daran. Das sehen Sie nicht. Sie haben sie nach Ihrer Befreiung geschrieben. Wenn Sie diese Befreiung vorausgesehen hätten, wenn Sie das in einem Buch gelesen hätten, wo die meisten Therapeuten doch unqualifiziert sind ( Die Klarheit, die Empfindsamkeit und die Hellsichtigkeit, so wie Sie sie präsentieren, sind nahezu nicht vorhanden, werden Sie sich im Klaren über dieses Chaos), hätten Sie die Falle gespürt, in der mehrere Ihrer Leser gefangen sind. Ich schreibe Ihnen mit der Energie der Verzweiflung. Ich schreibe Ihnen, weil ich Ihnen ähnlich bin, weil ich die notwendige Empfindsamkeit habe, um Sie zu verstehen, aber keinerlei Substanz, um sie auszuhalten. Ich weiß, dass Sie Recht haben. Ich habe in meinem Leben gefehlt. Man hat meine Bedürfnisse missachtet. Ich weiß das alles, allerdings fühle ich nicht mehr mein Recht auf das Leben. Weil ich zweifele. Ich verstehe Sie und gleichzeitig zweifele ich. Ich zweifele, weil Sie die Einzige sind, die bereit ist, alles aufzudecken, weil überall um mich herum niemand Ihren Diskurs trägt. Ich bin wie Sie, wäre ich gut, würde ich dasselbe machen ANPRANGERN. Denn auch ich sehe … auch ich weiß. Aber ich komme dort nicht an. Ich habe den Eindruck, mich untergehen zu sehen, genau zu wissen, was ich brauche, das heißt Mitgefühl und echtes Verständnis, aber mir fehlen die Mittel … Ich fühle mich klarer als meine Therapeuten. Und wie bei meinen Eltern habe ich das Gefühl gegen eine Mauer zu reden. Sie spiegeln das Unmögliche vor, man kann nicht mehr vernünftig sein, man ärgert sich, aber man schreit ins Leere!!!! Deswegen verabscheue ich sie.

Ich verbscheue Sie auch deswegen, weil Sie die VERANTWORTUNG zur Sprache bringen: “Es ist notwendig, auf die Zeichen unseres Körpers zu achten”. AHAHAHA, leicht gesagt!!!!! Und ich fühle mich schuldig, weil ich dazu nicht imstande bin! Ich bin genau so schuldig Ihnen gegenüber wie gegenüber meinen Eltern.

Ich heiße C …, und ich pfeife darauf, ob Sie meine Nachricht veröffentlichen oder nicht. Ich achte nicht darauf, die Anonymität zu wahren, an dem Punkt, wo ich bin!!!!!

Sie werden das sowieso lesen?

Letztendlich bin ich ohne Zweifel wirklich “schlecht”.

Übrigens sollten Sie Der Gehorsam von Suzanne Jacob lesen … und darüber in Ihren Büchern sprechen, sie hat auch verstanden. Verstanden, dass Sie Recht haben.

AM: Ja, man kann die Wut nicht vermeiden wenn man anfängt, zu verstehen, zu fühlen, die Augen zu öffnen. Ihre Wut ist stark, mächtig und ohne jeden Zweifel gerechtfertigt. Sie wird Sie zur Revolte und zur Befreiung führen. Aber überanstrengen Sie sich nicht mit der Primärtherapie, versuchen Sie, Schritt für Schritt zu gehen, begleitet von einer Therapeutin, die keine Angst vor den Schrecken Ihrer Geschichte hat, noch vor denen ihrer eigenen. Lesen Sie die Artikel, die Interviews und die FAQ-Liste auf meiner Seite, um Ihre potentielle Therapeutin testen zu können. Überstürzen Sie nichts. Sie sind nicht allein, Sie fühlen sich wie in der Wüste, weil die Emotionen Ihrer Kindheit Ihnen die Einsamkeit dieser Zeit signalisieren. Das Kind war allein und überdies gezwungen, zu schweigen. Aber jetzt, als Erwachsene, sprechen Sie, Sie schreiben und berühren die Anderen. Sie sind nicht mehr allein wie früher, auch wenn Sie sich so fühlen. Und Sie sind nicht bösartig, Ihre Wut ist mehr als berechtigt, das wissen Sie endlich, glücklicherweise!

Antwort von Brigitte:

Liebe C …,

Ihre Wunde und Ihre Verzweiflung erschüttern mich so sehr, Ihre Schmerzensschreie sind voll Wahrheit und gesundem Menschenverstand. Es ist so wahr, dass viele Leute die Bücher von Alice Miller lesen, ohne ein einziges Wort zu verstehen, und versuchen, Sie vom Gegenteil zu überzeugen, ganz zu schweigen von jenen, die behaupten, das sei “aufgewärmt”, und denjenigen, die darin nur eine Extremistin sehen.

Wenige Leute wie Sie haben den Sinn gefunden, den Sie den Büchern geben, aber ohne das Gegenüber eines klarsichtigen Therapeuten, der Ihnen zuhört und Sie versteht, ist es immer noch dasselbe Szenario, das Sie früher erlebt haben, das ist schrecklich und grauenhaft. Es ist berechtigt und normal, diese ganze Wut auszudrücken, die Sie sicherlich seit zu vielen Jahren aufgestaut haben, aber es ist nicht notwendig und sogar gefährlich, den Körper täglich “Primals” erleben zu lassen, um Ihre Geschichte aufzudecken, das ist eine große Gewaltsamkeit, die er nicht aushalten kann, ganz zu schweigen davon, dass er davon abhängig wird.

Ihre ganze Kindheitsgeschichte ist im Gedächtnis Ihres Körpers eingeschrieben wie auf einer Festplatte, und die Situationen, die man im Alltag erlebt, reichen aus, um die Verbindung mit dem, was man erlebt hat, herzustellen.

Sie sagen, “Ich bin freundlich … sanft, verständnisvoll, und im Inneren schreie ich, ich heule, ich rufe um Hilfe, aber niemand kommt”. Was drängt Sie dazu, die zu sein, die Sie vielleicht keine Lust haben zu sein? Hier eine Idee für den Anfang, wenn Sie nicht die freundliche, sanfte verständnisvolle C zeigen, was kann Ihnen geschehen? Indem Sie fühlen, warum Sie sich in gewissen Situationen verwandeln, können Sie die Verbindung zu Ihrer Kindheit herstellen und Sie selbst bleiben.

Das ist ein langer Weg, der zu durchlaufen ist, der erfüllt ist mit Schmerz, Hoffnung, Freiheit, ohne gewalttätig zu sein.

Mit all meinem Verständnis und meiner Zuneigung

Brigitte (Ein Mitglied des Teams)

C. antwortet:

Helfen Sie mir, Alice. Ich sehe nicht, warum Sie es machen sollten, aber ich bitte Sie, mir zu helfen. Beweisen Sie mir, dass der Wahrheit entspricht, was Sie in Ihren Büchern sagen. Ich muss nur an etwas glauben können. Und von alledem, was ich gelesen und gehört habe, hinterlässt Ihre Stimme ein Echo in mir. Helfen Sie mir. Ich bitte Sie, mir zu helfen. Ich habe Angst, zu sterben. Ich bin unfähig, zu lieben. Ich bin ein schreckliches Wesen. Gleichzeitig fühle ich mich überlegen. Ich bin narzisstisch. Und ich schäme mich. Ich schäme mich wegen all der Verachtung, die in mir ist. Ich habe auch Angst. Ich habe Angst, etwas Schlechtes zu machen. Ich bringe mich um, beim Versuch, mich zurückzuhalten. Helfen Sie mir, wenn Sie es können. Helfen Sie mir. Helfen Sie mir, Vertrauen zu finden. Ich habe Angst, alles zu verlieren. Ich habe auch Angst, mich umzubringen. So wie Virginia. Arme Virginia … Und ich wurde nicht missbraucht. Ich bin nur schrecklich. Ich will jemanden, der mich in die Arme nimmt. Ich habe mein Leben damit verpfuscht, zu grübeln und mich zu fürchten. Helfen Sie mir, Alice. Helfen Sie mir. Helfen Sie mir. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen glauben soll und gleichzeitig Anderen vertrauen. Ich habe Sie gelesen, wieder gelesen … Ich höre das “Vierte Gebot” im Mund all der Leute, die mich umgeben. Helfen Sie mir. Ich habe solche Angst. Ich möchte schon weiter sein, meinen Bedürfnisse antworten. Alice, ich kann Ihren Empfehlungen nicht folgen. Ganz einfach, weil es Empfehlungen sind. Ich habe Ihre FAQ-Liste gelesen … Und ich weine. Ich weine, weil ich nicht die Berechtigung dieser Fragen finde. Und wenn es meine Vergangenheit ist, die für mich spricht. Und wenn es meine Vergangenheit ist, die sich im Augenblick an Sie wendet. Und wenn es nicht so wäre. Und wenn es Gott wäre? Und wenn es mein Fehler wäre? Und wenn es die Feigheit oder die Feindseligkeit wäre? Und wenn ich das Böse wäre? Weil ich schon grausam gewesen bin. Ich habe schon meinen Hunden geschlagen, um ihn jaulen zu hören. Ich war ganz klein … Ich wollte ihn vor Schmerz aufheulen hören. Das war berauschend, Alice … Nur daran zu denken … Etwas steigt in meiner Brust auf … Der Rausch … Ich habe seltsame sexuelle Bedürfnisse, manchmal pädophil, auf Tiere bezogen … Sie finden mich sicher gemein. Ekelhaft. Ich werde nicht zurückkehren. Ich komme da nicht lebend heraus. Ist dies das Gefühl, das ich bei der Geburt erlebt habe, Alice? Wie können Sie Ihrer selbst so sicher sein? Wie? Wo finden Sie diese Beständigkeit? Glauben Sie also nicht an das BÖSE? Ich bin das Böse. Ich bin die, die nicht liebt. Ich bin die, die zurück weist. Wenn ich etwas Schreckliches erlebt habe, habe ich es vergessen … Ich möchte fähig sein, zu lieben … zu empfangen. Mein Therapeut sagt mir, ein Teil von mir lehne das Glück ab, dass dieser Teil verschiedenen Traumatisierungen entstamme. Ich fühle mich nicht besser. Ich fühle mich alleine. Sogar begleitet … Ich habe nicht den Mut, zu versuchen, Fehler zu machen. Ich habe nicht den Mut, weil ich davon überzeugt bin, niemals zu finden, was mir entspricht. Niemand entspricht mir. Nicht einmal Sie. Aber helfen Sie mir. Ich habe Lust, Sie zu beschimpfen. Ich weiß nicht, es steigt und steigt. Es ist erschreckend. Und alle verurteilen mich. Was nutzt es, ein Kind zu haben, eine Freundin oder bloß eine Bekannte, die uns nicht liebt. Ich verdiene meine Freude nicht. Und wenn ich mir das Recht gebe, töte ich. Wenn ich es wage, töte ich. Ich bin gelähmt vom Schmerz. Kommen Sie und halten Sie mich, Alice. Ich bitte Sie darum. Sagen Sie nichts, Alice. Ich kann die verschiedenen Meinungen nicht mehr aushalten. Ich werde daran sterben. Denn NEIN, mein Körper sagt mir nichts. (…) Und wenn ich verstanden werde, ist es niemals genug … Es bleibt immer etwas im Untergrund, versunken … Und Sie haben Ihre Ideen, während andere die ihren haben … Helfen Sie mir, Alice. Ich kann nicht gesund werden, indem ich Ihre Bücher lese. Und ich habe Therapeuten gehabt, die Sie gelesen haben. Nein, ich habe nicht all diese Fragen aus der FAQ-Liste gestellt. Ja, ich habe Angst. Ja, ich werde es nicht machen. Ich werde ihnen nicht diese Fragen stellen. Schade um mich, nicht wahr? Ist es das? Wenn ich nicht will, ist es schade um mich? Du glaubst daran oder du stirbst. So ist das Leben. Man muss seinen Glauben irgendwo anbringen. Es gibt kein Heil außerhalb des Vertrauens. Ich vertraue nicht … nicht mir, niemandem. Und ich bitte um Hilfe … Ich habe sie nicht verdient. Ich will sie nicht einmal verdienen. Ich will nur gut sein. Aber ich liege in den letzten Zügen … Ich muss akzeptieren, dass ich hässlich, schlecht und bösartig bin … Selbst wenn meine Wut in Ihren Augen berechtigt ist. In meinen ist sie es nicht … Ich möchte sterben, Alice. Das ist alles. Und nichts verpflichtet Sie, mir zu helfen. Absolut gar nichts. Ich bin nun wirklich alleine. Das ist keine Einbildung. Nichts ist wahrer als das, was man für wahr hält. Was machen Sie mit Klienten, die bis in alle Zeiten “Nein” sagen? Und warum könnten nicht Sartre, Jesus oder all die Psychotherapeuten, die Verhaltenstherapie propagieren, oder die Mediziner Recht haben? Warum könnte ich nicht der Teufel sein? Warum könnte ich nicht so alleine sein, wie ich glaube, es zu sein? Sie haben Unrecht. Ich bin alleine. Ich bin mehr als alleine. Wie ich es als Kind gewesen bin. Nicht weniger! Ich bin alleine, weil ich davon überzeugt bin, dass niemand mir helfen kann. Sie werden mir sagen, dass ich mich heute ausdrücken und Ihnen sogar schreiben kann? Ja und?! Klein, weinte oder schrie ich. Das ist mindestens dasselbe. Ich bin nach der Krise nicht erleichterter als ich es früher war … Simeone de Beauvoir hat gesagt “L’adulte est un enfant gonflé d’âge” (etwa: “Der Erwachsene ist ein aufgeblasenes Kind”). Warum nicht? Ich habe nicht mehr Mittel als vorher. Und wenn ich sie habe, sehe ich sie nicht. Also, wozu nutzen sie mir? Es gab keine Hoffnung für Virginia Woolf. Sie ist tot, weil niemand sie wirklich verstanden hat. Und wenn ich von diesem Verständnis abhängig bin, bin ich verloren. Und wenn ich von niemandem abhängig bin, bin ich auch verloren. Es gibt keinen Ausweg. Weil ich so bin, wie ich bin. Wenn ich eine andere wäre, wer weiß, vielleicht … Jeder steht für sich. Man kann seine Hilfsmittel aus dem Zwang heraus aufzehren, sich zu widersetzen. Und ich widersetze mich. Ihnen wie allen anderen. Ich bin verabscheuungswürdig wie die Hölle. Ich bin eine unerträgliche und unerwünschte Larve. Ich schweige jetzt.

A.M.: Sie schrieben im ersten Brief, dass Sie kein misshandeltes Kind waren, und hier schreiben Sie, dass Sie als Kind Ihren Hund schwer misshandelt hätten, weil Sie ein bösartiges Kind waren. Wer hat Ihnen beigebracht, sich so zu sehen? Auf der ganzen Welt gibt es nämlich kein einziges Kind, das seinen Hund quält, wenn es nicht selbst schwer misshandelt wurde, aber es gibt eine ganze Menge von Menschen, die sich so erleben und an ihren Schuldgefühlen verzweifeln, um die Schuld ihrer Eltern nicht zu sehen, weil sie die Strafe für das Sehen befürchten. Wenn Ihnen meine Bücher nicht geholfen haben, dies zu verstehen, dann kann ich gar nichts mehr für Sie tun. Sie selber können sich nur helfen, wenn Sie aufhören, Ihre Eltern zu beschützen. Dann werden Sie nicht mehr unter dem Zwang stehen, diese zu imitieren, indem Sie sich verabscheuen, beschimpfen und sich als ein Monster darstellen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet