Entbehrungen aus der Kindheit

Entbehrungen aus der Kindheit
Wednesday 18 February 2009

Liebe Frau Miller

Ich bin fest davon überzeugt, dass wir zu Lösungen und Veränderungen ausschließlich über das Zulassen unserer wahren Gefühle kommen. Meine Therapie nenne ich “Sei-wahrhaftig-zu-Dir-selbst-und-lerne-Deinen-Gefühlen-und-Deinem-Körper-zu-vertrauen-Therapie”. Welch großes Glück, wenn wir dann noch einen empathischen Zuhörer haben. Aber auch der aufmerksamste und einfühlsamste Zuhörer ist machtlos, wenn Hilfesuchende die Barrieren der eigenen Blindheit nicht niederzureißen vermögen, sondern sie unter allen Umständen aufrecht erhalten, aus Gründen, die nur sie selbst herausfinden können.

Ihre Anmerkungen zu “Transference” haben mich ganz besonders berührt, denn darin habe ich mein eigenes ehemaliges Verhalten total wiedererkannt. Sie beschreiben den Prozess, in dem ich mich befand, bevor ich Ihnen das erste Mal schrieb.
” … individuals … who only want you to take care of them because you MUST be the parent they are looking for their whole life.”
Genau das habe ich durch “Evas Erwachen” an mir wahrgenommen; ich hatte bis dahin mein ganzes Leben lang unbewusst nach Eltern bzw. Elternersatz gesucht, vor allem, nachdem ich den Kontakt zu beiden Elternteilen abgebrochen hatte, und wurde wütend und wütender, weil niemand diesen Part übernehmen wollte. Bis mir klar wurde, dass dies nicht möglich ist und niemals möglich sein wird. Im Nachhinein empfand ich meine Erwartungen an meine auserwählten Ersatzpersonen als fordernd, verletzend und ungerecht. Ich selbst bekomme heute massive Bauchschmerzen, wenn ich spüre, dass Menschen all ihre bisher unerfüllten Hoffnungen auf mich fixieren. Wenn diese hochwichtige Erkenntnis sich endlich durchgesetzt hat und man sich darüber im Klaren ist, dann ist der Weg frei für Veränderungen, ohne Illusionen und ohne unerfüllbare Erwartungen an die Umwelt. DANN endlich kann die Wut überwunden werden, denn dann braucht man sie nicht mehr, weil an ihre Stelle ein Gefühl der Selbstverantwortlichkeit tritt. Und das ist ein gutes Gefühl.

Wie emotionale Blindheit gegenüber sich selbst und gegenüber Kindern entsteht, haben Sie aufgedeckt, Frau Miller, die Gründe dafür liegen vor, und diese sind jedem zugänglich. Aber man kann die Menschen nicht erreichen, wenn diese es nicht zulassen können oder nicht zulassen wollen.
Ich weiß, wie schwierig und schmerzvoll es ist, Dinge akzeptieren zu müssen, die nicht mehr zu ändern sind. Aber loslassen von der Illusion, von jeglichen Erwartungen, ist der einzig gangbare Weg. Am Ende dieses Weges finde ich keine Eltern, aber manchmal einen verständnisvollen Zuhörer, und innere Freiheit.
Der Schmerz über die Entbehrungen aus der Kindheit und die Sehnsucht danach bleiben, das will ich nicht verschweigen, weil ich es so erlebe. Aber er liegt nicht mehr verborgen unter einem Nebelschleier, er ist mir bewusst, ich muss ihm nicht mehr unbewusst mit Verdrängungen oder Übertragungen begegnen. Der Schmerz und die Trauer über den Verlust meiner Kindheit werden so lange dauern, wie sie halt dauern müssen oder wollen; sie sind keine Behinderung mehr für mich.

Liebe Frau Miller, haben Sie noch einmal vielen Dank für all das, was Sie so vielen Menschen geben.

Ganz herzliche Grüße, A.T.

AM: Ich danke Ihnen sehr für Ihren interessanten und für andere hilfreichen Brief, den wir gerne veröffenlichen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet