Artikel über das Löschen traumatischer Ereignisse durch einen Wirkstoff

Artikel über das Löschen traumatischer Ereignisse durch einen Wirkstoff
Saturday 17 March 2007

Sehr geehrte Frau Miller,
am 13. März ist auf der Homepage www.wissenschaft.de folgender Artikel (unten an die Mail angefügt) über das Löschen traumatischer Ereignisse durch einen Wirkstoff veröffentlicht worden. In Ihrem Buch “Die Revolte des Körpers” haben Sie ja auf eindruckvolle Art beschrieben, wie traumatische Erlebnisse im Körper gespeichert, im Bewusstsein aber verdrängt, “gelöscht” werden. Ist dieses Löschen durch einen Wirkstoff nicht vergleichbar mit Verdrängen?
Freundliche Grüße, P. T.

****************
Der Artikel: “13.03.2007 – Hirnforschung
Gezieltes Vergessen
Forscher löschen bei Ratten die Erinnerung an ganz bestimmte traumatische Erlebnisse

Ein internationales Forscherteam hat bei Ratten mithilfe eines Wirkstoffs gezielt eine Erinnerung gelöscht. Die Tiere erinnerten sich nach den Tests nicht mehr an ein bestimmtes Schockerlebnis, während andere Erinnerungen unangetastet blieben. Das Verfahren könnte einmal bei Menschen eingesetzt werden, die unter traumatischen Erfahrungen leiden.
Die Wissenschaftler hatten die Tiere zunächst darauf trainiert, mit zwei verschiedenen Tonsignalen einen Elektroschock zu verbinden. Ertönte einer der beiden Töne, erwarteten die Ratten ein Schockerlebnis. So konnten die Forscher mithilfe der Töne die Erinnerung an die Elektroschocks bei den Tieren immer wieder aus dem Gedächtnis holen. Verabreichten sie den Ratten nun einen Wirkstoff namens U0126 und ließen diese gleichzeitig einen der Töne hören, verloren die Tiere die Erinnerungen an den ursprünglich mit diesem Ton verbundenen Elektroschock. Im Gedächtnis blieb den Tieren hingegen die Verbindung des zweiten, nicht gehörten Tons mit dem schmerzhaften Erlebnis.
Das Prinzip dieser gezielten Auslöschung von Erinnerungen beruht darauf, dass das Gehirn immer wieder ein “Update” der Erinnerung benötigt, bevor es Erlebtes im Langzeitgedächtnis abspeichern kann. Hirnforscher vergleichen dies manchmal mit einer Schublade, in der die jeweilige Erinnerung abgelegt ist wie eine Akte. Bevor diese Akte im Archiv des Langzeitgedächtnisses sicher abgelegt wird, holt das Gehirn sie immer wieder hervor, um sie auf ihre Relevanz zu überprüfen. Genau dieses Herausholen aus der Schublade lösten die Forscher dadurch aus, dass sie den Tieren den typischen Ton zu hören gaben. Der Wirkstoff U0126, der die Hirnfunktion beeinträchtigt, bewirkte jedoch gleichzeitig, dass das Gehirn die herausgeholte Akte verlor und nicht wieder in die Schublade zurücklegte. So verschwand die Erinnerung, die die Ratten mit dem gehörten Ton verbanden.
Frühere Experimente hatten bereits gezeigt, dass eine solche Auslöschung von Erinnerungen prinzipiell funktioniert. Doch nun konnten die Forscher zeigen, wie gezielt sich damit eine ganz spezielle Erinnerung aus dem Gedächtnis tilgen lässt. Traumapatienten könnten mit ähnlichen Techniken künftig von ihren quälenden Erinnerungen geheilt werden, hoffen die Forscher – eine Idee, die jedoch unter Ärzten und Psychologen vor allem aus ethischen Gründen umstritten ist.”

AM: Das ist eine interessante Frage: Wird man auch bei den Menschen wie bei den Ratten Erinnerungen an traumatische Erlebnisse löschen können? Und was wird damit erreicht? Sie fragen, ob das nicht gleichbedeutend sein wird mit der Verdrängung. Vermutlich ja. Das Problem ist, dass wir Traumen leicht vergessen; wir leiden ja nicht so stark an den bewussten Erinnerungen, wie an den Wiederholungszwängen und anderen Symptomen infolge der verdrängten, unbewussten Erinnerungen. Und in vielen Fällen stellt es sich heraus, dass das Bewusstwerden des Traumas im Kontext der eigenen Geschichte uns vor den Symptomen befreit. Dann ist die Bedeutung des Traumas wirklich und auf Dauer gelöscht. Was will uns also diese “Wissenschaft” bescheren? Noch mehr Altzheimer-Kranke? Wäre dies ein Idealzustand? Menschen, die nichts von ihrer Geschichte wissen wollen? Schon jetzt gibt es ja Medikamente, die auf das Löschen der schmerzhaften Erinnerungen ausgerichtet sind, sie sollen die Depression bekämpfen, wirken wie ein Wunder, und manche Menschen halten dies für eine gute Lösung. Ich persönlich könnte in meinem Leben keinen Sinn finden, wenn ich von meiner Geschichte getrennt wäre. Mir gibt sie die Möglichkeit, meine Gefühle zu verstehen und mich in den anfallenden Situationen so zu orientieren, dass ich für mich die optimale Lösung finden kann. Wie soll man sich im Leben orientieren, wenn einem nur die guten Erinnerungen bleiben und man niemals herausfinden kann, weshalb man z.B. an Kopfschmerzen oder Magenleiden oder sonstwas leidet. Das wäre eine extreme Selbstentfremdung. In meinen Augen wäre ein solches Leben höchst langweilig. Doch es ist zu befürchten, dass diese Idee, Menschen wie Ratten von unangenehmen Erinnerungen zu befreien und sie so zu “heilen”, Schule machen wird. Besonders wenn sich die Pharma-Industrie für diese Chance interessiert. Doch vielleicht tut sie es seit langem und finanziert bereits solche Forschungen?

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet