Der mühsame Weg zur Wahrheit

Der mühsame Weg zur Wahrheit
Saturday 20 February 2010

Liebe Alice,
der Brief „Die ungewöhnliche Klarheit“ vom 14.1.2010 hat mich wieder in Kontakt mit meiner gesunden Empörung gebracht. Unter solchem Sadismus zu leiden tut so unendlich weh! Und er zerstört so grundlegend das Selbstwertgefühl. Meine Mutter war genau so sadistisch. Und beim Lesen des Briefes wurde mir klar, wie wichtig es für meine Rettung war, daß ich einige Ihrer Bücher bereits mit 25 gelesen habe. Mein damaliger Partner las sie auch und war mir ein wissender Zeuge. Anschließend habe ich mich, weil ich nicht den Mut hatte, die entscheidenden Konsequenzen zu ziehen, über 10 Jahre in die Esoterik geflüchtet. Mit diversen Methoden ging es mir immer nur kurze Zeit besser. Außerdem kam ich finanziell auf keinen grünen Zweig, weil ich all mein Geld für Bücher, Selbstfindungsseminare und „Heilsteine“ ausgab. Mit 38 entdeckte ich Ihre Bücher wieder und konnte aufgrund der daraus gewonnenen Erkenntnisse meinem Leben die entscheidende Wendung geben. Ich habe mich selbst gerettet. Nach und nach entdeckte ich die grausamen Mißhandlungen auf, denen ich Zeit meines Lebens ausgesetzt gewesen war und von denen ich Ihnen schon in einigen Leserbriefen berichtet habe. Bei der Aufarbeitung war die Wut der entscheidende und voranbringende Motor. Endlich hatte ich den Mut, den Kontakt zu den Verbrechern, bei denen ich leider aufgewachsen bin abzubrechen. Der Prozeß der Aufarbeitung wird wahrscheinlich für den Rest meines Lebens weitergehen. Ich scheue ihn nicht. Die Wut hilft mir die Depression zu bekämpfen, die mich immer wieder übermannen will. Sei sie von den Elternintrojekten initiiert oder von äußeren Situationen.
Was sich seit meiner Lebensrettung vor 4 Jahren massiv verändert hat, ist mein Zugang zur Kunst. Ich bin Sängerin, Musikerin und Schauspielerin. Noch vor 5 Jahren sang ich auf der Bühne eigene Lieder. In zynischer Kabarettmanier drückte ich einerseits mein Leid verschlüsselt aus, bagatellisierte es aber im nächsten Moment. Diese Kälte schaudert mich heute selbst. Als Kabarettistin war ich sogar recht erfolgreich. Doch das macht für mich heute alles keinen Sinn mehr. Ich habe mich mehr auf den Schauspielbereich verlagert, weil dort die Wahrheit unverschlüsselt ausgedrückt werden kann. Doch die Suche nach „wahren“, d.h. ehrlichen Projekten (Bühne, Film) ist wirklich mühsam. Deshalb habe ich begonnen, selbst zu schreiben. Auch das Zeichnen habe ich für mich entdeckt. Ich habe durchaus Talent darin, meine Mutter hat es nicht gefördert, weil SIE die bildende Künstlerin in der Familie war und Konkurrenz befürchtete.
Ich bin Künstlerin geworden, weil ich dadurch hoffte, meine seit meiner Kindheit unterdrückten Gefühle ausdrücken zu können und um überhaut wieder Zugang zu ihnen zu bekommen. Leider hat das im künstlerischen Bereich immer nur ein Stück weit funktioniert. Und es war frustrierend nie ans „Eingemachte“ zu kommen.
Jetzt verstehe ich den für jeden Künstler schmerzenden Satz von Ihnen, daß der Kulturbetrieb zur Farce wird, wenn man einmal durchschaut hat, daß er nur der Vernebelung unserer wahren Gefühle aus der Kindheit dient. Ich bin sehr froh, das begriffen zu haben, denn nur so kann ich die Verleugnung vollständig aufgeben.

Mit freundlichen Grüßen
KM

AM: Ich gratuliere Ihnen zu Ihrer Offenheit und Ihrem Mut, sich mit ALLEN Ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, Ihrer tragischen Wahrheit zu nähern.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet