Die politische Unreife
Saturday 19 August 2006
Sehr geehrte Frau Miller:
ich bin Historiker, Mitte 40, und habe viel über Hitlers Aufstieg zur Zeit meines Studiums gelesen. Doch jetzt las ich die Neuauflage Ihres Buches “Am Anfang war Erziehung”, in dem Sie die politische Unreife von Millionen auf die Tatsache der frühen Erziehung zum Gehorsam, zur Härte und zur Blindheit Autoritäten gegenüber zurückführen. Ein geschlagenes Kind hat keine Möglichkeit, die Grausamkeit der erfolgreichen Demagogen und deren Propaganda zu durchschauen oder folgt ihnen willig, weil es sich an den Verfolgern der frühen Kindheit rächen will. Aber ist dies heute immer noch so? Werden die Kinder heute nicht freier als vor hundert Jahren erzogen? Ich würde mich über Ihre Antwort freuen.
AM: Vielen Dank für Ihre Zuschrift. Leider hat das Schlagen der Kinder nach dem Kriegsende nicht aufgehört. Die meisten halten dies immer noch für ein geeignetes Erziehungsmittel und sind um die Folgen dieser Behandlung nicht im Geringsten besorgt. Sie erzählen unbekümmert von den “Prügeln”, die sie selbstverständlich erhielten (weil das angeblich “normal” sei), die ihnen aber “gut getan” hätten. Es fällt in der heutigen Diskussion, zum Beispiel über Günter Grass und ähnliche Fälle, auf, dass kein Mensch die Frage gestellt hat, wie ein Kind erzogen wurde, das sich später freiwillig in das Hitlersystem einfügen wollte. Es wird also heute immer noch angenommen, dass die “normale” Erziehung keine Schäden bewirken konnte.
In der Diskussion über die Naivität der jungen Leute, die sich freiwillig zum Militär gemeldet haben (das gab es ja auch schon im ersten Weltkrieg) sagt man nebenbei, dass dies doch noch “halbe Kinder” waren. Offenbar hat man schon vergessen, dass nicht nur Jugendliche unter den politisch Blinden waren, sondern Millionen von Erwachsenen, unter ihnen Schriftsteller wie Gerhard Hauptmann und Philosophen wie Martin Heidegger. Diese Millionen wurden fast ausnahmslos grausam, weil mit Hilfe von erbarmungslosen Schlägen, zum Gehorsam erzogen, und diese Erziehung trug ihre Früchte oft bis ins hohe Alter. Sie konnten die Grausamkeit der Hitlerpläne nicht durchschauen; oder aber sie benutzten unbewusst diese Gelegenheit, um sich an Sündenböcken für den bei den Eltern erlittenen Terror, zurzeit als sie noch klein und wehrlos waren, zu rächen. Leider gibt es nur wenige Menschen, die sich erlauben, diese Dynamik zu verstehen, weil die meisten, als einst geschlagene Kinder, immer noch die schlimmsten Strafen befürchten, wenn sie sich gestatten würden, die Grausamkeit ihrer eigenen Erziehung wahrzunehmen und das Leiden des hilflosen Kindes, das sie damals waren, zu spüren. Sie brauchen sich der Angst nicht auszusetzen, solange sie sich belügen und glauben, dass sie die Schläge verdient hätten und dass soweit alles in ihrer Kindheit “in Ordnung war”.
Daher erteilt man dem alten Mann moralische Lektionen, ohne Ende, wie man das im eigenen Elternhaus so gut gelernt hat: “Ich bin enttäuscht von dir, wie konntest du bloß, warum hast du es nicht früher gesagt, das hätte ich niemals von dir erwartet”. Aber niemand fragt den Mann: “Wie fühlten Sie sich in Ihrem Elternhaus? Durften Sie sich gegen sinnlose Strafen wehren? Durften Sie deren Sinnlosigkeit und Grausamkeit überhaupt wahrnehmen? Was hat Ihnen so viel Angst gemacht, dass Sie 60 Jahre brauchten, um diese Angst vor Verachtung zu überwinden und etwas zu gestehen, was nur vielleicht die Folge Ihrer Erziehung war, aber niemals Ihrer freien Entscheidung? Weil vielleicht alles in Ihrer Erziehung darauf ausgerichtet war, Gehorsam zu lernen, aber keine freien Entscheidungen treffen zu dürfen?”
So bleibt alles im Dunkel, was vor der Pubertät geschehen war. Das Leben scheint mit dem Alter von 15 zu beginnen, und die Kindheit, die so viele Erklärungen liefern und uns wachrütteln könnte, bleibt als Thema unberührt. Dabei ist sie eine Fundgrube, die entdeckt werden müsste, um uns vor den künftigen Folgen der politischen Naivität und Blindheit zu bewahren. Dies wäre heute zweifellos dringend nötig.