Es ist wirklich ein Wunder

Es ist wirklich ein Wunder
Thursday 28 June 2007

Liebe Alice Miller,

heute, nach fast genau einem Jahr will ich Ihnen noch einmal schreiben, weil ich Ihnen für Ihre Bücher und Veröffentlichungen auf dieser Seite gar nicht genug danken kann.
Am 17. Juni 2006 haben Sie unter der Überschrift „Das Wunder“ meine Geschichte über mein „Leben“ veröffentlicht.
Ihre Antwort hat mich damals darin bestärkt, diesen Weg weiter zu gehen, trotz des Wissens, wie schwer es ist, wenn keine Menschen da sind, die einem glauben. Ich kann die Wahrheit über all die Misshandlungen durch meine Eltern und deren Vollstrecker nicht mehr verleugnen.
ZUm Glück habe ich in der Nähe meines Wohnortes eine Klinik gefunden, wo ich seit dem Jahre 2000 mehrfach zu einer Intervalltherapie aufgenommen wurde, und wo ich trotz der Grenzen, die auch diese Klinik durch die Gesellschaft, vertreten durch die gesetzlichen Krankenkassen mit ihren Richtlinien, aufgezeigt bekommen hat, meinen Weg gehen konnte, mein Vertrauen in mich und meine Gefühle wieder zu erlangen.
Vor dreieinhalb Jahren habe ich dann auch noch meinen jetzigen Therapeuten gefunden, der mir wissender und helfender Zeuge in einem ist. Dort durfte ich alles sagen, ohne Bewertungen, ich habe gelernt, meine immense Wut auf die „Täter“ zuzulassen, zu weinen und zu trauern. Der Vorgang des Verzeihens in irgendeiner Form wurde nie von ihm gefordert. Wenn ich Zweifel hatte, mich wieder die Schuldgefühle übermannten, hat er mir gesagt, dass meine Eltern, der Nachbar, mein Ex-Mann und mein erster Therapeut die Verantwortung und die Schuld tragen. Durch sehr vorsichtige Körpertherapie habe ich mir meinen Körper zurück erobert, ich weiß heute, dass ich meinem Körper vertrauen kann, er sagt mir sofort, wenn irgend etwas nicht stimmt,meist schon eher, bevor der Verstand reagieren kann. Mein Körper lügt mich nicht an, er verdreht nichts. Die chronischen Schmerzen, die jahrelang meine Begleiter waren sind verschwunden,keine Dissoziationen, keine Migräne, keine Depressionen, keine Unterleibsschmerzen, nicht mehr die entsetzlichen Schmerzen im Gesicht, weil ich ständig die Zähne zusammen gebissen habe. Das Schweigen zu durchbrechen, die Gefühle zulassen, das hat mich gesund gemacht. Seit fast zwei Jahren nehme ich kein Medikamente mehr, ich brauche sie nicht mehr, sie haben mir nie geholfen, nur meinen Blick auf die wahren Ursachen verschleiert.

Vor einigen Wochen hat meine Herkunftsfamilie noch einmal einen Versuch unternommen, mich wieder in ihren Sumpf aus Verleugnung und so tun als wenn alles in Ordnung wäre, hineinzuziehen. Mein Vater wollte seinen achtzigsten Geburtstag mit der „ganzen Familie“ feiern. Die Art und Weise, wie ich eingeladen wurde, und wir mir auch meine Geschwister indirekt sagen wollten, dass es doch jetzt genug wäre, dass ich den Kontakt abgebrochen habe und ich doch gefälligst zu kommen habe, hat mir endgültig gezeigt, dass es richtig war, vor zweieinhalb Jahren den Kontakt abzubrechen. Insgeheim hatte ich manchmal doch noch gehofft, dass meine Eltern ihre Verantwortung, für die Misshandlungen übernehmen, sehen was sie getan haben. Doch nicht ein Wort aus ihrem Mund. Ich war es nicht mal Wert, persönlich eingeladen zu werden. Kurz zuvor hatte ich erfahren, dass meine älteste Schwester aus Süddeutschland wieder in ihre alte Heimat kommt, dass heißt für mich, sie wohnt mit Ihrer Familie ca. 400 Meter von mir entfernt. Sie benutzen jetzt meine Kinder, um an mich heranzukommen.
Heute kann ich jedoch trotz der Angst, wieder in den „Schoß der Familie“ gesogen zu werden, sagen, dass diese Familie keine Macht mehr über mich hat. Ich habe keine Erwartungen mehr, doch noch geliebt zu werden. Während dieser Zeit kamen viele Erinnerungen, unter anderem ist mir eingefallen, dass ich die einzigste Puppe, die ich zu Weihnachten 1962 bekommen habe und das Buch „Tausend und eine Nacht“ noch auf dem Speicher waren. Ich habe sie wieder hervorgeholt, habe mir die Puppe angesehen, versucht das Buch zu lesen, es war einfach nur schrecklich und doch war plötzlich alles ganz klar. In dem Jahr als ich die Puppe und das Buch bekam, ist dieser Nachbar zu uns ins Haus gezogen und zwei meiner Schwestern bekamen auch eine Puppe geschenkt. Es waren Schildkröt-Puppen, die auch damals schon sehr teuer waren und meine Eltern konnten sich diese nicht leisten. Ich konnte mich an die Namen der Puppen meiner Schwestern erinnern, meine hatte keinen Namen. Meine hatte lange Haare, für damalige Verhältnisse, etwas „Besonderes“, ich habe sie abgeschnitten, ich habe ihr immer wieder Arme und Beine herausgerissen und die Augenbrauen entfernt. Ich hatte wieder diesen Satz meiner Mutter im Ohr, dass der Nachbar Herr C. die Puppe gekauft hatte. Sie hat mich und meine Schwestern an ihn verkauft, ich war sechs Jahre. Die Puppe und das Buch habe ich in die Mülltonne geworfen und sie sind in der Müllverbrennung gelandet. Keinen Tag länger hätte ich sie in meiner Nähe haben können.
Ich könnte jetzt noch einiges aufzählen, was ich im letzten Jahr aufgedeckt habe, doch das würde hier den Rahmen sprengen. Alles in Allem geht es mir sehr gut, ich fühle mich befreit von den Fesseln der Vergangenheit. Ich werde nichts vergessen, und es wird sicher manchmal noch etwas schmerzen. Ich fühle mich sicher und ich bin in meinem Körper angekommen, kann wieder frei Atmen, mich riechen und mich anfassen. Jetzt endlich beginnt mein Leben. Nach über vier Jahren der Rentenzeit, bin ich fest entschlossen, wieder in meinen alten Beruf zu gehen, ich bin mir 100% sicher, dass es klappt und ich freue mich darauf.
Etwas, was ich nie geglaubt habe, dass ich nie für möglich gehalten habe ist passiert, ich habe mich verliebt, habe meine Sexualität entdeckt, fühle mich wie eine Fünfzehnjährige, ist ja auch fast so. Ich war über zwanzig Jahre mit dem Vater meiner Kinder zusammen, doch diese Gefühle, habe ich so noch nicht erlebt und wahrgenommen.
Für mich ist dieses wirklich ein Wunder.
Zum Schluß möchte ich kurz anmerken, dass auch meine drei Kinder, die sehr unter meiner Geschichte leiden mußten auf einem guten Weg sind und soweit es mir möglich ist und ich es darf, werde ich sie begleiten und bestärken in dem was sie für ihr Leben wollen.

Jetzt bleibt mir nur noch danke zu sagen, Ihnen liebe Alice Miller und auch Ihnen liebe Barbara Rogers.
Ich werde mich weiterhin für Ihre Sache einsetzen und hoffe, das ich einigen Menschen etwas Mut machen konnte, sich selber zu vertrauen.

Ganz liebe Grüße

Astrid Johnke

Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Erfolg und danke, dass Sie uns diesen Brief zur Veröffentlichung überlassen. Er wird viele Menschen ermutigen, den Weg zu gehen, den sie immer schon gehen wollten, aber fürchteten, nicht durchzukommen und bestraft zu werden. Ihre Geschichte zeigt, dass man diese Angst durchstehen, die Wahrheit zulassen kann und dadurch neue Kräfte in der Befreiung gewinnt. Ich freue mich mit Ihnen über dieses Gelingen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet