Die irreführende Hoffnung

Die irreführende Hoffnung
Saturday 25 July 2009

Liebe Frau Miller
Mit grosser in Worte nicht fassbarer Dankbarkeit habe ich in den vergangenen 6 Monaten alle Ihre Bücher gelesen. Dadurch viele Erkenntnisse gewonnen, die mir in meinem ganzen Psychologiestudium sowie der Psychotherapieausbildung verwehrt blieben und mich verstanden gefühlt wie noch nie in meinem ganzen bisherigen Leben! Seit meiner Jugendzeit befasse ich mich intensiv mit psychologisch-philosphischen Themen und erst mit der Unterstützung ihrer Betrachtungen konnte ich vieles in meinem Leben zum Guten verändern. Einiges lässt mich nach wie vor hadern und ich möchte eines davon mit Ihren Worte aus dem Buch “Der gemiedene Schlüssel”, S.66 zitieren: Aus diesem Gedicht spricht der Neid auf diejenigen, die nehmen können, die als Kind Liebe bekommen konnten, die sich in einer Gruppe geborgen fühlen können, die nicht dazu verdammt sind, in der Einsamkeit neue Welten zu erschliessen, sie den anderen zu schenken und dafür deren Feinseligkeiten zu ernten. Aber das Schicksal lässt sich nicht ändern. Wer nicht ohne Wahrheit leben will, muss auch die Kälte der Einsamkeit auf sich nehmen.”. Diese eisige Kälte hält mich in ihrem erbarmungslosen Griff und ich möchte Sie fragen, ob sie denken, dass es für Menschen mit einem solchen Schicksal tatsächlich gar kein entrinnen aus dieser unendlichen Einsamkeit gibt?
Meine zweite Frage richtet sich auf meinen sehnlichsten Wunsch nach einer Beziehung in der ich um meines wahren Selbst willens geliebt werde, was ich in meinen bisherigen 39J. noch nie erlebt habe. Mit einem solchen Menschen in meinem Alter noch eine Familie zu gründen, stelle ich mir als das grösste mir vorstellbare Glück vor, welches mir bis anhin leider verwehrt blieb. In Ihrem Buch “Am Anfang war Erziehung”, S. 85 schreiben Sie: Diese einst der höheren Moral geopferten, intelligenten und oft sehr differenzierten Menschen machten sich als Erwachsene zu Opfern einer anderen – oft entgegengesetzten – Ideologie, für deren Zwecke sie sich in ihrem Innersten wie damals in der Kindheit völlig beherrschen liessen. Das ist die unbarmherzige, tragische Gesetzmässigkeit des unbewussten Wiederholungszwanges.”. Meine ungewollte bis anhin unbewusste Verweigerung sehe ich als Wiederholungszwang mich gegen das elterliche Diktat der braven selbstlosen Tochter zu wehren, indem ich ihnen ihre Enkel verweigere und strafe mich dabei unfreiwillig selber am meisten. Bis zu meinem 34 Lebensjahr hatte ich lanjährige Beziehungen und ausgerechnet in den letzten 5 Jahren, sind wie von Geisterhand bestimmt keine neuen Beziehungen mehr möglich. Trotz Bewusstmachung vieler abgewehrter schmerzhafter Gefühle will es mir nicht gelingen diesem Teufelskreis zu entrinnen. Können Sie mir sagen, ob ich etwas übersehe? Ist es immer noch meine eigene Blindheit als Ausdruck dafür, dass sich ein Teil von mir weigert zu glauben, schmerzhaft weigert die Hoffnung aufzugeben? Meine Eltern sind schwer traumatisierte Kinder aus dem zweiten Weltkrieg und auch die vorangegangenen Generationen haben keinerlei Aufarbeitung ihrer abgewehrten Verletzungen zulassen können, wobei vieles aus diesen Biographien unbekannt ist. Muss ich davon ausgehen, dass ich diese unbekannte Familienbürde mittrage und eventuell deshalb keine Kinder haben darf?
Herzliche Grüsse, MD

AM: Sie fragen mich: “Muss ich davon ausgehen, dass ich diese unbekannte Familienbürde mittrage?” Ich wüsste nicht warum. Es sei denn, dass Sie Ihre Hoffnung auf die Liebe Ihrer Eltern nicht aufgeben können und meinen, dass sie sich diese Liebe verdienen müssten. Doch eine solche “Rechnung” geht nicht auf. Hingegen haben Sie das Recht auf Ihr eigenes Leben und auf das Glück mit Ihren Kindern, und werden all das haben, sobald Sie diese unerfüllbare Hoffnung und die aufgezwungenen Schuldgefühle aufgegeben haben.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet