Nachtrag zu TV-Experiment

Nachtrag zu TV-Experiment
Tuesday 10 July 2007

Liebe Frau Miller,

ich vermute, ich habe gestern meine Frage nicht richtig formuliert…

Es ist völlig klar, daß ich ohne eigenes Erleben nicht versucht hätte, die Mutter daran zu hindern, ihr Kind derart anzuschreien. Ich schrieb ja, wie unerträglich ich das fand. Auch meine Formulierung, daß ich dem Kind die Verzweifelung und Einsamkeit ansehen konnte, macht sicher klar, daß ich “mit”fühlte, will heißen, daß ich aus eigenem Erleben nachvollzog, was das Kind fühlte.
Meine Frage aber betraf weitaus eher die Mutter, die mich anging, als würde ich sie sexuell belästigen. Dieses Verhalten habe ich ja erst im Nachhinen so interpretiert, war aber in der Situation, in dem Moment, als sie mich anschrie “Gehen Sie weg von mir!” erschrocken und überrascht, ja ratlos. Erst eine halbe Stunde später fand ich jene Erklärung für diesen an sich in der Situation selbst unangemessenen Satz. Beschimpfungen, Verhöhnungen etc. hätte man ja wie von vielen Eltern erwartet, aber diese Art Abwehr war sozusagen “schief” – das meine ich mit “unangemessen”! Aber sie war ja auch entlarvend: so wie diese Frau eine völlig unangemessene Art der “Kommunikation” mit ihrem Kind wählte, so war das auch mit mir.
Später erst konnte ich erkennen, daß sie sozusagen einmal auf bestimmte Gleise des Verhaltens gesetzt worden war, die immer zu “Unangemessenheit” der Kommunikation, ins Leere, in die Wut, die Enttäuschung führen.

Ich bat Sie deshalb um Ihre Meinung, weil diese gleichsam “alltägliche” Episode (denn es ist ja von erschreckender Alltäglichkeit, daß Eltern ihre Kinder in der Öffentlichkeit ungehindert beschimpfen und schlagen) für mich so viel an “Hintergrund” freilegte; einen Tag später, erscheint sie mir sogar exemplarisch…
Habe ich etwa das Verhalten der Mutter überinterpretiert – natürlich ist mir klar, daß sie an ihrem Kind “ihre” Wut/Enttäuschung etc. ausließ. Auch, daß sie sich verbat, daß ich mich einmischte, ist ja nicht verwunderlich – aber darüber hinaus packte mich das Erschrecken, daß sie zusätzlich diesen “Schrei” ausstieß “Gehen Sie weg, lassen Sie mich!”

Wenn meine Vermutungen stimmen, daß hier eine Frau an ein eigenes kindliches Erleben des Übergriffs herangeführt wurde, durch meine kleine (und eigentlich selbstverständliche) Intervention auf der Straße, dann kann ich wirklich nur erschrocken sein und entsetzt. Denn es zeigt sich, diese Erinnerungen liegen gar nicht so tief verborgen, sie sind doch mit Händen zu greifen… Gewiß nicht für den Betroffenen – aber mit ein bißchen weniger Blind- und Taubheit bei den anderen, müßten sie doch spürbar werden…
…da sich aber die Passanten nicht um die “Bestrafung” des Kindes kümmerten und erst herschauten als sie meinten, eine Frau würde belästigt, kann man wirklich verzweifeln…

Es ging mir also bei meiner Frage darum, ob ich hier nicht zuviel Laienpsychologie betrieben und die Situation überinterpretiert hätte…

Herzliche Grüße. W.B

AM: Diese Mutter lebt wie viele Eltern STÄNDIG in ihrer traumatischen Vergangenheit, die sie nicht kennt und nicht kennen will. Daher kann sie nicht die geringste Empathie für ihr Kind haben, sie kann seine emotionalen Bedürfnisse weder wahrnehmen, noch erfüllen. Den kleinen Jungen sieht sie wie einen Roboter, der ihr gehorchen und der in ihre Welt hineinpassen soll. Ich kann verstehen, dass es Sie schockiert hat, dies als Erwachsener mitzuerleben.
Viele von uns waren Opfer solcher Mütter, und als Kinder waren wir nicht einmal schockiert, wir hielten diese Haltung für normal, weil wir nichts anderes kannten. Erst als Erwachsene können wir uns empören.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet