Vernachlässigung

Vernachlässigung
Tuesday 18 July 2006

Sehr geehrte Frau Miller,
ich habe ein wenig auf Ihrer Hompage gestöbert, und vieles gelesen, entweder von Ihnen oder von Ihren Lesern, daß ich gerne bestätigen möchte.
Auch ich bin groß geworden, mit einem Gefühl der Leere und des Elends. Ich fühlte mich immer gering geschätzt, mißverstanden und ausgeschlossen, ohne Selbstvertrauen. Ich war immer Außenseiter und bin es noch heute. Egal was Sie und Ihre Leser schreiben, ich kann all das Elend mitfühlen. Ich stimme Ihnen zu, zu dem was Sie über unseren Umgang mit Kindern, über Mißbrauch und Gewalt schreiben.
Aber ich möchte Ihnen sagen daß Ihre Ursachenaufzählung unvollständig und einseitig ist. Nur allzu plausibel klingt es, daß es zu Störungen kommen muß, bei der Gewalt den Kindern angetan wird. Aber geht es nicht auch viel subtiler? Ich kann alles nachfühlen, was Sie und Ihre Leser schreiben, aber ich habe mein Leben lang keine Gewalt und Mißachtung erfahren müssen, in der Art wie Sie sie beschreiben. Und doch bin ich nun mit ende 30 an einem Punkt angelangt wo ich die Hoffnung auf eine brauchbare Daseinswahrnehmung aufgeben muß, und für mein kommendes Leben keine Grundlage mehr sehe, und eigentlich nie sah. Ich habe meine Eltern und meine Lebensumstände nicht immer positiv wahr genommen, muß aber rückblickend feststellen, daß sie immer gut zu mir waren, wohlwollend und hilfsbereit. Daß ich es lange nicht so wahrnahm, lag nicht an den Umständen, sondern an meiner Wahrnehmung. Ich habe nie eine positive Wahrnehmung für andere und die mich umgebenden Dinge gehabt, und sie dementsprechend immer als fremd und bedrohlich wahrgenommen. Aber Mißbrauch und Gewalt, völlige Fehlanzeige!!!! Die von Ihnen und ihren Lesern beschriebenen Störungen sind durch Gewalt und Missbrauch alleine nicht erklärbar. Genau so schlimm wie unangemessener und gewalttätiger Umgang mit den Kindern, vielleicht sogar noch schlimmer ist, kein Umgang. Die erste Lebenszeit wird, obwohl die Problematik nicht unbekannt, völlig unterschätzt. Wir begehen den größten Fehler damit, unseren Nachwuchs nicht von Anfang an vollständig in unseren Alltag zu integrieren. Es ist allein schon fragwürdig, die Kinder ins Bett zu legen, anstatt sie beim Schlafen am Körper zu tragen. Alle sind happy, wenn daß Baby weit weg schläft, nicht stört, wenig Arbeit macht. Und wenn es schreit, soll es mal gleich lernen, daß es nicht immer gleich kriegt was es will. Umfassender Umgang mit dem Nachwuchs wird oft als nervend, und benachteiligend empfunden. Erst wenn es älter ist, wird es, immer noch unzureichend, in ein Umfeld integriert, der dem Nachwuchs bereits fremd ist, obwohl er bereits hätte darin aufwachsen sollen. Zu diesem Zeitpunkt ist das Kind bereits ein Deprivationsopfer. Der mangelnde Umgang hat bereits zu Defiziten in der Hirnentwicklung geführt, und ist oftmals nicht mehr korrigierbar. Unruhe, ADHS, Verhaltensauffälligkeiten aller Art kann man beobachten. Vieles scheint mit der Zeit zu verschwinden, aber nur, weil “ man lernt, sich zu benehmen“. Es bleiben doch meist Wahrnehmungsdefizite zurück, die sich zeigen als z.B. : Depressionen, Beziehungsunfähigkeiten, unangemessenem Konsumverhalten, sei es zuviel oder auch zu wenig, u.s.w..
Es gibt da einen Mechanismus, der nennt sich : erlernte Hilflosigkeit. Etwas, daß vom Ursprung her gut ist. Es ermöglicht nicht nur dem Menschen, sich mit Dingen zu arrangieren, die zwar störend, aber nicht lebensbedrohlich sind. Das funktioniert meiner Meinung aber nur auf der Basis einer vollständig entwickelten Persönlichkeit, also bei einer defizitfreien Hirnentwicklung.
Was ist aber, wenn die erste Erfahrung die das Baby macht, die erlernte Hilflosigkeit ist. Wenn man es schreien läßt, bis es von alleine aufhört. Die allererste Erfahrung die der Nachwuchs macht, ist, daß es mit seinen Bemühungen keinen Erfolg hat. Ich glaube, daß ist ein guter Grundstock für ein Leben voller Verzweifelung und Depression. Und wenn in der Folge nicht einiges besser gemacht wird, wenn man der lethargischen Bedürfnislosigkeit zu sehr nachgibt, anstatt das bereits beeinträchtigte Kind zu fördern, gesellen sich noch etliche Störungen dazu, die ein Leben in Depression, Fremdheit, Einsamkeit, Beziehungsunfähigkeit und Alltagsuntauglichkeiten aller Art garantieren. Ich möchte betonen, daß ich hier speziell von den ersten Lebensmonaten spreche, und nach dem 2. Lebensjahr das meiste gelaufen ist.
Ich vemisse in der öffentlichen Diskussion diese Thematik, jeder weiß, wie wichtig der Umgang ist, aber tun wir wirklich genug? Interessant ist doch zu sehen, welches Bild von der Elternschaft in unserer Gesellschaft gezeichnet wird. Hat man Kinder, ist das schöne Leben vorbei, es ist von Arbeit, Belastung und Benachteiligung die Rede, für etwas, daß eine elementare Selbstverständlichkeit darstellt, und von jeder Kreatur problemlos erledigt wird. In der Politik wird so getan, als könnte man mit Kindern nicht leben, Hort- und Verwahrplätze müssen her, damit man sich wichtigeren Dingen widmen kann. In den Medien, und vor allem bei der Comedi müssen Eltern immer wieder als verlachte Ärsche vom Dienst herhalten, und Alice Schwarzer tut auch nicht viel, vielleicht nicht mit Absicht, um die Mutterrolle zu stärken. Man muß bedenken, das es viele Mütter gibt, die durchaus auf der Schwelle stehen zwischen vollständiger Brutpflege und Vernachlässigung, sie sind in beide Richtungen beeinflußbar. Dann gibt es ja auch, nicht zu vergessen, die Mütter, die noch die emotionale Fähigkeit zur kompetenten Mutterschaft haben, und leider auch die, die durch nichts zu einer brauchbaren Mutterschaft zu bewegen sind. Hier sind oft die Täter Opfer, nicht unbedingt der Gewalt, vielleicht auch nur der schlichten Vernachlässigung.
Mit freundlichen Grüßen, R. S.

AM: Sie schreiben: „Ich habe meine Eltern und meine Lebensumstände nicht immer positiv wahrgenommen, muß aber rückblickend feststellen, daß sie immer gut zu mir waren, wohlwollend und hilfsbereit. Daß ich es lange nicht so wahrnahm, lag nicht an den Umständen, sondern an meiner Wahrnehmung. Ich habe nie eine positive Wahrnehmung für andere und die mich umgebenden Dinge gehabt, und sie dementsprechend immer als fremd und bedrohlich wahrgenommen.“
Offenbar sehen Sie Ihr Misstrauen als Ihren Fehler an und nicht als Folge einer Behandlung, die Sie misstrauisch machte. Diese Sicht der Dinge scheint Ihnen zu helfen, und ich fühle mich nicht aufgerufen, sie zu korrigieren.
Stattdessen möchte ich Ihnen für Ihren wichtigen Beitrag danken, weil es offenbar in diesen Korrespondenzen zu wenig deutlich wurde, dass ich die Vernachlässigung des Kindes und dessen Bedürfnisse nach Nähe und Stimulation in der ersten Lebenszeit ebenfalls als Miss-Handlung verstehe. Sie haben absolut Recht, wenn Sie darauf hinweisen, dass diese ersten Monate einen ganz entscheidenden Einfluss haben, weil sich in dieser Lebenszeit das sogenannte Urvertrauen bilden müsste und es in der Abwesenheit der Eltern kaum ausbilden kann.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet