Das ignorierte Baby

Das ignorierte Baby
Friday 15 December 2006

Liebe Frau Miller, liebes Team,

Sie haben mir schon einmal auf einen Brief geantwortet, was mich mit großer Freude erfüllt hat, und ich möchte mich dafür bedanken.
Zwei Erlebnisse der letzten Zeit will ich Ihnen schildern. Ich war neulich auf einer Party alter Schulfreunde von mir, eine dieser Freunde hat vor knapp 3 Monaten ein Kind bekommen, und diesen kleinen Jungen hatte sie mitgebracht. Trotz der Kälte fanden wir uns im Garten zu einem Lagerfeuer zusammen. Die junge Mutter hatte ihren Sohn oben im Haus im Schlafzimmer der Gastgeber abgelegt. Unten bei uns im Garten trug sie ein Babyphon mit sich herum, damit sie hören kann, “wenn was ist”. Und das Baby weinte. Alle machten Witze, und jemand sagte, “schalte doch einfach ab, wenns dich stört”. Mir wurde ganz schlecht, ich zitterte und überlegte verzweifelt, was ich tun kann. Die Mutter erklärte, dieses Weinen sei noch kein richtiges Schreien, sie würde ja wissen, wenn ihr Kind sie braucht. Ich bin fast durchgedreht, ich war ein Frühchen, meine Mutter hat mich nie gestillt, ich wurde mit 2 Monaten in die Kinderkrippe gegeben, und mit Unterstützung Ihrer Bücher, Frau Miller, finde ich immermehr zu mir selbst. Ich habe das Weinen von dem Kind einfach nicht ertragen. Ich hatte solche Angst, dass mich alle komisch finden, wenn ich nicht wie die andern gleichgültig bin und mit ihnen feiere. Und dann bin ich, ohne noch was zu denken, oder was zu der Mutter zu sagen, einfach in das Haus gegangen, zu dem Baby und habe ihn in die Arme genommen und ganz lange herumgetragen. Er hat sofort aufgehört zu weinen, und ich war gleichzeitig ganz glücklich und furchtbar traurig. Denn mir wurde völlig klar, Sie haben absolut recht, dass wir da unempfindlich sind, wo wir selbst abgetötet wurden. Keiner dieser Menschen hat auf die Verzweiflung des Babys reagiert, und ich weiß, die haben uns alle schreien lassen, bis wir unsere Gefühle nicht mehr empfunden haben. Auf die gleiche Art ist auch in mir damals alles abgetötet worden. Die Reaktion der jungen Leute auf der Party, meiner Altersgenossen, zeigt mir, dass das Tabu wohl fast alle Menschen betrifft, was ich sehr beängstigend finde. Das seltsame ist, dass ich, als ich auf meine Gefühle hörte, und zu dem Baby ging, plötzlich gar nicht mehr nachdenken mußte, was richtig oder falsch ist, oder was jetzt die Mutter von mir denkt, weil es einfach richtig WAR, was ich tat. Die Mutter kam nämlich dazu und versuchte gar nicht, mir das Kind wegzunehmen, ich hielt es solange im Arm bis es sich beruhigte, obwohl sie mir immerzu erzählte, es hätte ja eigentlich nichts.
Das zweite Erlebnis betrifft ein altes Beziehungsmuster bei mir. Und zwar habe ich mich immer in Menschen verliebt, die meine Wünsche nicht erwiderten, oder nicht wirklich eine Beziehung mit mir führen wollten. Ich weiß, dass meine Eltern mich abgelehnt haben und dass ich von Geburt an darauf dressiert wurde, keine eigenen Bedürfnisse zu haben, die ich infolgedessen auch nie zu spüren gelernt habe. Und langsam fange ich an zu fühlen, es ist wie eine Geburt, und es hat lange genug gedauert, und es geht auch nur, weil die wahnwitzigen Schuldgefühle wegen meiner starken Emotionen schwächer werden, denn ich habe angefangen, Ihnen zu glauben, dass das Kind immer unschuldig ist, und ich glaube Ihnen das, weil ich es selbst beobachte und weil es die Wahrheit ist. Bei vielem, was Sie schreiben, FÜHLE ich, dass Sie die Wahrheit sagen, und daher sind Sie kein Guru für mich, sondern jemand, den ich nicht persönlich kenne, der aber sehr wichtige Bücher schreibt, denen ich anmerke, dass sie viel WAHRES enthalten. Nun also zu dem zweiten Erlebnis: Ich habe mich wieder in jemandem verliebt, der durch sein Verhalten offenkundig zeigt, dass er nicht an einer Beziehung mit mir interessiert ist. Üblicherweise würde ich jetzt um diesen Menschen kämpfen, mich offenbaren und jahrelang hoffen, dass es doch noch was wird. Und nun habe ich zum allerersten Mal in meinem Leben dieser Tatsache, dass der andere Mensch einfach mein Verliebtsein nicht erwidert, konkret wahrgenommen, getrauert und gesagt, ok dann nicht, das macht nicht weniger aus mir, dann akzeptiere ich das so, und werde natürlich jemand anderen finden. Verstehen Sie, ich war noch nie auf die Idee gekommen, dass ich nicht verzweifelt darauf hoffen muss, dass der andere doch noch will. Das ist für mich eine völlig neue Erfahrung. Liebe Frau Miller, ich wünsche Ihnen alles Gute!

Viele Grüße, A. K.

AM: Vielen Dank für Ihren Brief und das vielsagende Beispiel. Es ist ein wichtiger Beitrag zur Sensibilisierung für den Mangel an Empathie, dem wir täglich begegnen und uns deshalb daran gewöhnen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet