So viel Mut trotz allem
Tuesday 04 October 2005
Sehr geehrte Frau Miller,
ich schreibe Ihnen auf Deutsch, da ich mich in meiner „Muttersprache“ am besten ausdrücken kann. Dennoch hoffe ich, dass Sie dieser Brief erreicht.
Gerade habe ich die Lektüre Ihres Buches „Am Anfang war Erziehung“ beendet. Und obwohl dieses Buch schon mehr als 20 Jahr alt ist, habe ich die Thematik „Schwarze Pädagogik“ mit all Ihren negativen Auswirkungen auf die Kinder, die dann als Erwachsene diese Prinzipien weiter geben, als sehr aktuell empfunden.
Wie Sie auf Ihrer Homepage schreiben, möchten Sie wissen, ob Sie die Informationen über einzelne biographische Details Ihrer Leser/innen veröffentlichen dürfen: Was meine Geschichte angeht, habe ich dagegen keine Einwände.
Ich wurde vor rund 30 Jahren in Ostdeutschland geboren. Meine Mutter war bis zu Pension berufstätig, mein Vater war und ist im seemännischen Bereich berufstätig (und aus diesem Grund bis Anfang der 90`er Jahre selten zu Hause). Außer mir gibt es noch einen Bruder, der drei Jahre älter ist als ich und ebenfalls einen seemännischen Beruf erlernt hat.
Bis zum Auftreten meiner Angstneurose im Jahr 1993 glaubte ich, eine überglückliche Kindheit gehabt zu haben und auch ein quasi „immer“ fröhliches Kind gewesen zu sein. Schließlich hatten mir meine Eltern, insbesondere meine Mutter, immer wieder erzählt. 1993 begann ich ein Studium in einer ca. 650 km von meinem Heimatort entfernten Kleinstadt. Eigentlich wollte ich schon als Kind Lehrerin für Fremdsprachen werden, jedoch hatten meine Eltern mir dies ausgeredet und mich auf die „sichere Beamtenlaufbahn“ (also als Staatsdienerin) gebracht. Kurz nach Beginn des Studiums in dem kleinen, sehr katholisch geprägten Ort bekam ich erste Anzeichen psychosomatischer Beschwerden: Herzrasen, Schweißausbrüche, Schwindel, Beklemmungsgefühle (dies alles kombiniert mit Todesangst) – um nur die stärksten zu nennen. Nach einer Odyssee durch diverse Arztpraxen bekam ich die Diagnose „Angstneurose“. Die erste Therapeutin, die ich in meinem ganzen bisherigen Leben aufsuchte, sprach mit mir sehr viel über meine Familie. Ich sah das erste Mal, wie ungerecht ich zu Hause behandelt wurde. Ich wurde von meiner Mutter geschlagen – mein Bruder nicht. Meine Mutter, mein Vater (wenn er einmal da war – meist war er auf See für 6-9 Monate) und mein Bruder machten sich ständig lustig über mich. Fast alles, was ich vor ihren Augen tat, wurde lächerlich gemacht oder abfällig kommentiert. Mir wurde klar, dass ich gar nicht so ein fröhliches Kind gewesen sein konnte, wie mir immer erzählt worden war!
Damals war ich überhaupt nicht von meinen Eltern emanzipiert, so dass ich meinen Eltern von den Gesprächen mit meiner Therapeutin erzählte. Sie waren außer sich! Ihrer Meinung nach hetzte die Therapeutin mich gegen sie (also meine Eltern) auf. Außerdem, so sagten meine Eltern, seien Psychotherapeuten alle nur geldgierige Scharlatane.
Das verunsicherte mich sehr. Bis dahin hatten meine Eltern doch immer Recht gehabt und ich nie – also brach ich die Therapie ab. Die nun schon bestehenden Angstzustände (panische Angst vor einem orthostatischen Kreislaufkollaps, Angst zu sterben, Angst vor einem Herzinfarkt) nahmen zu.
Mit Ausnahme von zwei Jahren Unterbrechung durch eine Psychoanalyse, die mir überhaupt nicht half, machte ich dann bis zum Jahr 2002 keine weitere Therapie. Ich beendete mein Studium (ich weiß bis heute nicht, WIE ich das geschafft habe), arbeitete 5 Jahre lang am Gericht. Im Jahr 2001 zog ich ins Ausland (ich hatte mich in einen Mann, der dort lebte, verliebt) fing dort mit einem Studium an, das ich eigentlich schon immer gewollt hatte: Sprachen (Russisch).
Die Beziehung scheiterte und wir trennten uns. Ich fing an, mein eigenes Leben zu leben, denn vorher waren all meine Beziehungen (sowohl zu meinen Eltern als auch meine Liebesbeziehungen immer von großer Abhängigkeit gekennzeichnet gewesen). Das Geld, das mir meine Eltern für dieses Studium gaben, reichte nicht zum Bestreiten der Ausgaben, wie z.B. Studiengebühren usw. Daher musste ich viel „neben“ der Uni arbeiten. Darüber hinaus verliebte ich mich in einen Mann mit Kind, was auch eine völlig ungewohnte, neue Situation für mich war. Diese Gesamtsituation (studieren, viel nebenher arbeiten, Aufbau einer neuen Beziehung mit Kind) überforderte mich total.
Ein halbes Jahr später erlitt ich einen totalen Zusammenbruch. Schon lange gab es Anzeichen der zurück kommenden Neurose (in Wahrheit war sie ja die ganze Zeit über da – mit unterschiedlichen Ausprägungen). Nun „kam sie zurück“ – stärker denn je. Ich hatte starke Depressionen; ich dachte fast ununterbrochen an Selbstmord und konnte überhaupt nicht mehr allein sein ohne starke Panikattacken zu bekommen. Gegen diese Symptome bekam ich das Medikament „Tresleen“ und begann mit einer kognitiven Verhaltenstherapie. Innerhalb dieser Therapie fand ich heraus, dass meine Mutter mich für ihre sexuelle Befriedigung missbraucht hatte. Darüber hinaus, dies wusste ich vorher schon, schlug sie mich oft (mit der Hand oder mit einem hölzernen Kochlöffel – teilweise so stark, dass er zerbrach). Meine Mutter, mein Vater und mein Bruder machten sich auch ständig lustig über mich. Fast alles, was ich sagte und/oder tat, wurde von ihren abwertenden Kommentaren begleitet (dies hat sich bis heute nicht wesentlich geändert). Auc mein Bruder schlug und quälte mich auf diverse Art und Weise (seine Mutter hatte ihm ja vorgemacht, dass das in Bezug auf meine Person schon okay war).
All dies ist in Ihrem Buch beschrieben. Es hat meine Augen geöffnet für viele Dinge, die ich auch während meiner Verhaltenstherapie nicht wirklich realisiert hatte.
Diesen Sommer verbrachte ich mit meinem Freund und seinem Kind bei meinen Eltern. Deutlicher denn je erlebte ich mit und wurde mir bewusst, wie sich meine Eltern anderen Menschen gegenüber im Allgemeinen und mir gegenüber im Besonderen verhalten (Stichwort: Abwertung durch Sich-Lächerlich-Machen usw.). Nach den zwei Wochen bei meinen Eltern schrieb ich ihnen eine E-mail, in der ich meinen aufgekommenen negativen Gefühlen Ausdruck verlieh. Ich schrieb ihnen unter anderem, dass ich mit ihnen über ihr Verhalten mir gegenüber sprachen möchte, dass sie mir sehr wehtun und weh getan haben sowie, dass ich ihr Verhalten nicht mehr ertragen kann und WILL. Sie antworteten mehrere Wochen lang nicht, dann ereichte mich eine zweizeilige Antwort folgenden Inhalts: „Zorn hat selten etwas mit Realität zu tun. Nette Mails werden jedoch sofort beantwortet.“ – !!! –
Schließlich rief ich sie an und teilte ihnen mit, dass ich den Kontakt zu ihnen nur dann aufrechterhalten kann und will, wenn wir über diese unsere Probleme in einer ehrlichen und offenen Weise gesprochen haben. Mein Vater (immer mein Gesprächspartner am Telefon, wenn es Probleme gibt – meine Mutter meldet sich dann nie) sagte, sie hätten beide keine Zeit zu einem solchen Gespräch. In einer weiteren Mail an meine Eltern blieb ich hartnäckig und bestand auf einem Gespräch. Eine „normale Beziehung“ und „Frieden“ zwischen uns (beides wünschten sie sich von mir expressis verbis) könnten, so ich, nur realisiert werden, wenn wir uns der Vergangenheit schonungslos offen stellen würden.
Zwei Tage vor dieser Mail an Sie, Frau Miller, rief ich meine Eltern noch einmal an und fragte, wann sie nun einen Termin für dieses Gespräch eingeplant hätten. Mein Vater sagte: „Nach dem Lesen deiner Mail haben wir gar keinen Termin für dich.“ Ich antwortete: „Aber, du weißt, wenn ihr keine Zeit habtfür ein Gespräch über unsere Situation, dann war dies das letzte Gespräch zwischen uns für den Rest eures Lebens.“ Mein Vater meinte: „Wenn das so ist, dann ist es so.“ Ich konnte nur noch sagen: „Okay, dann…“ und legte den Hörer auf.
Dies ist meine momentane Situation. Seit zwei Tagen versuche ich zu realisieren, was passiert ist. Es bestand ohnehin schon wenig Hoffnung auf eine Versöhnung mit meinen Eltern durch ein ehrliches Gespräch über die Vergangenheit. Nun ist diese Hoffnung gescheitert. Meine Eltern hätten, symbolisch gesprochen und in psychologischer Hinsicht gemeint, Selbstmord begangen, wenn sie in den Spiegel ihrer eigenen Kindheit und unserer Familiengeschichte geblickt hätten. Ihre einzige Chance zu überleben war, die Illusion einer glücklichen Kindheit und unfehlbaren Verhaltens ihrerseits als Eltern aufrecht zu erhalten. Dies haben sie getan – um den Preis des Verlusts ihrer Tochter.
Ihr Buch, Frau Miller, hat mir geholfen, meine Gefühle zu akzeptieren (insbesondere solche des Hasses, der Traurigkeit und auch aggressive). Darüber hinaus sehe ich nun auch die andere Seite der sprichwörtlichen Medaille, nämlich, dass es nicht meine Schuld ist, was mir geschehen ist, dass das meiste, was passiert ist, mehr mit der Biographie meiner Eltern als mit mir zu tun hat.
Momentan bin ich sehr traurig. Dennoch weiß ich nun, dass dieser Blick in den Spiegel, das Aufarbeiten der eigenen (Kindheits-) Geschichte, der einzige Weg ist, Geschichte Geschichte sein zu lassen und endlich mein Leben zu leben. Nicht dieselben Fehler zu machen, die meine Eltern gemacht haben, insbesondere in Bezug auf das Kind meines Freundes. Wir müssen ihn seine Gefühle aus- und erleben lassen (auch solche des Ärgers und der Frustration) – auch wenn diese sich gegen uns richten, wenn er auf mich oder meinen Freund „böse“ ist (dies war ohnehin schon eines unserer Prinzipien, jedoch bin ich mir der Tragweite nun stärker bewusst). Ich liebe mein Leben und bin auf dem richtigen Weg, das weiß ich, nur macht mich natürlich momentan der Kontaktabbruch meiner Eltern sehr traurig. Ich werde mir die Zeit nehmen und diese Traurigkeit zulassen. Ich weiß nun, dass dies der richtige Weg ist – auch dahingehend, für unser Kind ein guter Partner zu sein, der ihm ALLE seine Gfeühle zugesteht.
Am Ende möchte ich Ihnen, Frau Miller, noch einmal danken für Ihre Ehrlichkeit und Courage. Ihre Arbeit ist meines Erachtens nach ein Schritt auf dem Weg zu einer friedlicheren Zukunft. Deshalb empfehle ich Ihr Buch so vielen Menschen als möglich.
U.R.
A.M.: Ich danke Ihnen für Ihren offenen und klugen Brief. Es ist erstaunlich und kommt selten vor, dass eine Frau, die so misshandelt und so grausam von den Eltern abgelehnt wurde, trotzdem die Kraft und die Klarheit aufbringt, sich selbst zu suchen. Und dies mit einer ungewöhnlichen Konsequenz. Aus den Reaktionen Ihres Körpers sehen Sie, dass Sie Ihre Wahrheit nicht nur ertragen können (auch wenn sie unendlich schmerzhaft ist), sondern auch von dieser Erkenntnis profitieren. Ihr Brief ist eine indirekte Bestätigung dessen, was ich im Artikel „Aus dem Gefängnis der Schuldgefühle“ aufzuzeigen versuchte. Ich denke, dass er auch anderen Menschen wird helfen können, den Mut zu ihrer Trauer und Desillusionierung zu finden und sich nicht lebenslang für die Taten zu bestrafen, die die Eltern begangen haben.