Die Hoffnung auf das Paradies
Sunday 21 December 2008
Liebe Alice Miller,
ich möchte Ihnen gerne von meiner Gehirnwäsche bei den Zeugen Jehovas
berichten. Ich wurde 1975 geboren, und schon in der Tragetasche (10 Tage alt)
regelmäßig in die Versammlung der Zeugen Jehovas geschleppt. Diese so
genannten Versammlungen fanden 3 Mal wöchentlich statt, in einem Saal mit
vielen Stühlen und einer Bühne. Dienstags (Dauer: 1 Std.) trafen wir uns immer
bei einer Familie zu Hause in einer kleineren Gruppe, am Freitag und Sonntag
(Dauer: je 2 Std.) jeweils im großen Saal. Dort kamen dann, abhängig von der
Größe der Stadt,150-200 Zeugen Jehovas mit ihren Kindern.
Das Jahr 1975 war ein Jahr in dem ein guter Christ keine Kinder bekommen
sollte, denn: Es wurde als Termin für den Weltuntergang,
„Harmageddon“ festgelegt, und den Zeugen ins Gewissen geredet….
„Ist es denn für einen reifen Christen nicht seine Pflicht, alle seine
Kraft in den Dienst Jehovas zu stellen?“, „Es liegt doch auf der
Hand, dass man in einer Welt, in der Satan und seine Dämonen wüten, den
Kinderwunsch zurückstellt!“, „Für all das haben wir doch im Paradies
noch genügend Zeit!“
Meine Eltern bekamen meinen Bruder Anfang 1975, ich wurde ungewollt gegen Ende
1975 geboren. Wir mussten erzogen werden, nach dem was ‚Richtig und
Gerecht‘ ist. Wie diese Erziehung dort aussah?
Wir mussten 2 Stunden lang in dieser Versammlung ruhig sitzen, sobald wir
sitzen konnten. Keine Spielsachen, keine Malsachen, nicht reden, NICHTS. Von uns
wurde erwartet, den Rednern auf der Bühne zu lauschen, und das mit 1,5 Jahren.
Wenn wir „laut“ wurden, schnappte uns unsere Mutter und riss uns aus
der Stuhlreihe in den hinteren Raum, an all den Menschen vorbei, die teils
mitleidig und teils wütend auf uns drein blickten. Das war ein Raum, in dem die
Kinder geschimpft bekamen, beaufsichtigt wurden, oder einfach nur Schläge
erhielten. Mein Vater nahm vorsorglich gleich mal den Schlauch mit (ein Stück
Gartenschlauch ca. 50 cm lang) incl. Bibel in die Versammlung. Wir bekamen
garantiert. Er zog meinen Bruder und mich raus und packte den einen unter seinem
rechten und den anderen unter seinem linken Arm und rannte mitten durch die
Versammlung in den Vorraum. Dort schlug er uns windelweich. Mit einem
Gartenschlauch! Wir waren 3 bzw. 4 Jahre alt!! Wir konnten danach kaum sitzen
vor Schmerzen. Weinen durften wir nicht, er schrie uns an wir sollen sofort
damit aufhören, auch schon wegen der vielen Leute….Obwohl es NICHT zu
übersehen war, so wurde mein Vater nicht angegangen. Keiner hat ihn deshalb
angegriffen und uns geschützt. Es wurde toleriert, nein, vielen tat es richtig
gut, diese Härte und Strenge mitzuerleben. Damit mal endlich die ungezogenen
Kinder bestraft werden. Wir wurden immer wieder angehalten still zu sein und
‚Kommentare‘ zu geben. Immer wieder hieß es: Komm Ruth, gib doch mal
eine Antwort, man boxte mich in die Seite… melde dich doch. Wenn ich mich
nicht zu Wort meldete, vor über 100 Zuhörern und mich schämte etwas laut zu
sagen, hieß es danach: „Warum habe ich heute nichts von dir gehört?“
„Gebe doch mal ‚einfache‘ Antworten, wie ‚Jesus‘ oder
‚Jehova‘, das wirst du doch hinbringen…“, „…wenn nicht,
müssen wir uns mal zu Hause darauf vorbereiten!!!
Irgendwann war der Gartenschlauch nicht mehr notwendig, wir hatten die Lektion
verstanden und verinnerlicht.
Jedem Zeugen Jehovas wurde dringend „empfohlen“, viel zu studieren,
„ließ die Bibel täglich“, „nur durch ein regelmäßiges
Bibelstudium, das du zu Hause durchführst, kannst du Gottes Segen
erleben“. Also versuchte mein Vater, der dort ein Amt inne hatte, das
alles besonders in seiner Familie umzusetzen. Wir mussten die Bibelbücher
(Moses, Josua, Richter, Ruth…..) auswendig lernen, wir mussten sie immer
wieder aufsagen, es wurde überprüft. Wir lernten Bibelverse auswendig, und
machten eine Art „Spiel“ daraus, wo sie standen. Wir sagen die Lieder
der Zeugen Jehovas mit permanenten, versteckten Botschaften (natürlich ohne den
Sinn zu verstehen). Wir mussten den Wachtturm studieren und Bibelverse
rausschreiben, auch das wurde kontrolliert. Dann gab es ein Geschichtenbuch aus
dem kleinen Kindern vorgelesen wurde, ich kannte NUR dieses Buch als Kind. Alle
anderen Bücher waren „dämonisch und von der bösen, dem Untergang
geweihten Welt“. In diesem Buch wurde aber mit grauenhaften Bildern, die
jedem Kind NUR Angst und Schrecken einjagen, „gespielt“. Es wurde das
„wilde Tier“ (Satan) abgebildet, man sah wie sich die Erde auftat und
die bösen Menschen schreiend hineinfielen, Steinigungen, als die Sinnflut kam
und man die Menschen beim Ertrinken sah…. Und vieles vieles mehr. Die
Botschaft: Wenn du nicht gehorchst, wird auch dir das zu teil.
Zeitgleich wollte mein Vater dort in dieser „Gemeinde“ Macht, er
wollte was zu sagen haben und wir mussten funktionieren, wir mussten eine
MUSTERFAMILIE werden. Nach außen hin perfekt, alle schön gekleidet, Haare
zurecht gemacht, Schleifchen rein, Zöpfe geflochten…. still sitzend bis zum
Ende. Kommentare gebend und immer lächelnd und lieb sein. Höflich,
zuvorkommend, sittsam, anständig, gehorsam das sind so Schlagwörter mit denen
ich täglich zu tun hatte.
Aber wohin mit dem LEBEN, mit unserer Lebendigkeit?? Wo war die Liebe, von der
ständig gepredigt wurde? Wie konnte das zusammen passen, Schläge in dem
„Haus Gottes“??
In den weltlichen Kindergarten kamen wir nicht. Wir blieben bei unserer Mama zu
Hause. Kontakte konnten wir „pflegen“, aber nur diese zu den Zeugen
Jehovas Kindern. Keinen Kontakt mit „Weltlichen“, das sind die bösen
Menschen die vernichtet werden.
Wir wurden schon mit ca. 4 bzw. 5 Jahren in den „Dienst“ mitgenommen.
Das heißt, min. 1,5 Std. max. 4 Std. von Haus zu Haus gehen und predigen (die
Frauen in Röcken, sogar bei extremer Kälte). Meistens war das Samstag
vormittags. Außerdem gehörte dann noch der sog. „Straßendienst“
dazu, sich in die Stadt mit dem ‚Wachtturm‘ und dem ‚Erwachet‘
stellen. Wie oft wurden wir von Passanten beleidigt, angespuckt, verhöhnt und
lächerlich gemacht. Das musste ich aushalten, selbst wenn es mich tief
getroffen hat.
„Seid kein Teil der Welt“, „Haltet Euch von der Welt
getrennt“, „auch Jesus erging es so“ ,“Daran werdet ihr
erkennen, dass ihr meine Zeugen seid, sie werden euch verspotten und
hassen“
Das sagte man uns, damit wir in deren Sinne funktionierten.
Sobald ich in die Schule kam, musste ich die „Schulbroschüre“ den
Lehrern geben. Eine von der Organisation der Zeugen Jehovas extra angefertigte
Broschüre. Alleine, mit 6 Jahren!! Ich sprach meine Lehrerin an, dass ich
Zeugin Jehovas sei, nicht mitbete (beim Morgengebet), nicht einmal aufstehe,
dass ich an keinen weltlichen Festen und Feierlichkeiten teilnehme. Keine Lieder
singe die religiös gefärbt sind, keinen Religionsunterricht besuchen werde….
Mit 6 Jahren stand ich alleine da. Meine Eltern halfen mir nicht. Sie gingen
kaum bis gar nicht auf Elternabende und überließen es mir, mich dort als
„wahre Christin“ zu verhalten. Ich gab „Zeugnis“, redete mit
meinem Rektor, gab ihm die Bibel, und tat alles um irgendwie meine Stellung zu
halten. Ich war anders, durfte auf keinen Kindergeburtstag, kein Kinderfest, –
NICHTS. Immer musste ich sagen, Nein, ich darf nicht kommen, ich feiere keinen
Geburtstag, kein Weihnachten, kein Ostern, kein Fasching,… NICHTS.
Dort warst du NIE in Ordnung, es war nie genug, was auch immer du getan hast.
Ich bin mit 9 Jahren 20 Stunden im Monat in den ‚Dienst‘ gegangen und
doch habe ich gehört: „20 Stunden, was ist das schon“,…. „TU
DEIN ÄUSSERSTES“, „Ist DAS etwa dein Äußerstes?“,
„Schenke Gott dein GANZES Herz, nur so wirst Du Gelingen haben.“
Wenn es mir schlecht ging, so lag es IMMER AN MIR, ich habe wohl nicht
genügend studiert, „Satan lässt nicht locker, er beobachtet uns immer und
überall, er findet eine Stelle in dir…. Du musst noch mehr studieren, noch
mehr beten, dich noch mehr für Gott einsetzen, verharre im Gebet, schütte
Jehova Dein Herz aus, gib dich hin….“
Ich war sowohl in meiner Schulzeit als auch dort bei den Zeugen Jehovas immer
ein Aussenseiter. Ich passte nicht zu den Kindern der „Welt“, aber
fühlte mich auch nicht wohl mit denen der Zeugen Jehovas.
Alles wurde geregelt. Für alles gab es ein Bibeltext, für alles einen
Wachtturm, wo zu lesen ist, was zu tun ist. Dort stand für jede Lebenslage das
„Passende“. Für Menschen die nicht wissen, was zu tun ist, die Zeugen
Jehovas wissen es. Also galt es alles zu tun, was in den „Schriften“
stand. Wir müssen uns wie Schafe verhalten, die (doof) hinter einem Hirten
(Jesus) herliefen, hieß es. Wir müssen mit der Organisation Jehovas Schritt
halten, d.h. wir dürfen keine eigenen Überlegungen einbringen. „Es steht
nicht bei dem Manne auch nur seinen Schritt zu richten“ das wurde uns
eingebleut. „Das Herz ist verräterischer als alles sonst“ ,
„Stütze Dich nicht auf Deinen eigenen Verstand sondern vertraue auf
Jehova“, „Zweifler werden Gottes Königreich nicht ererben“.
Dadurch das wir dies permanent zu hören bekamen, immer und immer wieder, für
mich 23 Jahre lang, jede Woche – wurden uns diese Botschaften langsam und
gründlich verabreicht. Eigene Bedürfnisse – Fehlanzeige. Sie mussten dauerhaft
zurück gestellt werden, denn all das kann ich ja dann im Paradies machen, wenn
ich es denn schaffe gerettet zu werden. Also : Auf der Hut sein, jeden Tag
nützen, immer bereit, Gottes Gericht kommt wie ein Dieb in der Nacht, darauf
vorbereitet sein!
Als Jugendliche – keine Kontakte zum anderen Geschlecht, außer man will
heiraten, kein vorehelicher Geschlechtsverkehr, keine Discos, keine weltliche
Musik, nicht schminken, keine eng anliegenden Kleider, keine zu kurzen Röcke –
„Eine hand-breit überm Knie“ – das war die Grenze, besser – wenn das
Knie nicht zu sehen war. Keine tiefausgeschnittenen Oberteile….. keine
auffällige „Zurschaustellung“, sondern: „wohl geordneten
Kleides, bescheiden, sittsam“.
Keine Schulbildung für ein Studium, nur so viel: dass man einen Beruf erlernt
bei dem man auch halbtags arbeiten kann und die andere Zeit im „Dienste des
Herrn“ steht. Wenn wir Kinder „aufsässig“ wurden, drohte man
uns, teils unter Tränen, „willst du denn vernichtet werden??“, oder
„ich könnte es nicht ertragen, ohne dich im Paradies zu sein!“ solche
Worte kamen dann unter Tränen von meiner Mutter. Mein Vater schrie uns nur an:
„Willst Du in Harmageddon mit den bösen Menschen sterben?“ „Mach
nur weiter so, so kommst du nie ins Paradies!“
Ich bin mit 24 Jahren aus der Sekte ausgeschlossen worden. Ich
„verlor“ alle meine „Freunde“, sie wechselten die
Straßenseite, wenn sie mich sahen.
Keiner sprach mit mir, mittleidigen Blickes sahen sie an mir vorüber.
Auch meine Eltern schränkten den Kontakt mit mir ein. Sie wollten mir dadurch
eine „Lektion“ verabreichen, dass ich nur mit Gott leben kann und
nicht ohne. Es wird mir schlecht gehen, ich werde drogenabhängig werden, Satan
wird mit seinen Dämonen kommen und meine Seele in Besitz nehmen, ich verliere
Gottes Segen. Das waren die Prognosen dieser Leute als ich ging.
Es hat ca. 3 Jahre gedauert und ich war wieder halbwegs stabil.
Eines ist mir ganz wichtig hervorzuheben: Erst mit dem Moment, als ich dort
nicht mehr hinging, keinen Kontakt zu diesen Menschen mehr hatte, fiel mir
langsam der Betrug und die Illusion auf. Der Nebel der auf allem lag,
verflüchtigte sich immer mehr. Ich konnte mehr und mehr sehen, zu was ich dort
erzogen wurde, was mir alles genommen wurde, wie ich in etwas hineingepresst
wurde, wie stark die Heuchelei dort war und vieles mehr.
Ich konnte vorher nie sagen WAS genau daran so schlimm war (ich kannte ja
nichts anderes, in Folge dessen fiel es mir auch nicht auf), erst dann als ich
alles gekappt habe, blickte ich mehr und mehr durch. Erst dann zeigte sich der
Horror mit allen Gesichtern. Erst als ich ging und NICHTS mehr aufnahm von
diesem Gift, ließ es mich langsam gesunden.
Übertragen auf meine Eltern hat das für mich bedeutet: Erst mit dem Moment wo
ich alles abschneide und durchtrenne, erst dann werde ich richtig sehen können,
denn es gibt keine Abhängigkeiten mehr, keine Verbindung im Hier und Jetzt,
nichts was meinen Verstand erneut vernebelt, nichts wofür ich mich wieder klein
machen muss, usw.
Auch wenn der Terror der Eltern noch viel heftiger ist und viel nachhaltiger,
so halte ich es für durchaus möglich, dass es sich dort genau so verhält. Ich
habe den Kontakt abgebrochen, denn SIE sind die Wurzel des Übels. Sie haben
mich in dieser Sekte groß werden lassen, mich terrorisiert, misshandelt und
abgelehnt.
Dieser Schritt war für mich konsequent und es gab keine Alternative!
Herzliche Grüße an Sie Frau Miller, RR
AM: Ihr Bericht ist erschütternd. Er zeigt so viel über die „nette“, verhohlene Grausamkeit einer Kindheit, dass ich kaum etwas zu ergänzen brauche. Es geschieht selten, dass man sich an solche seelischen Folter so gut erinnern kann, aber Sie beweisen, dass dies MÖGLICH ist. Sie können jetzt als freie Erwachsene das wahrnehmen, was Sie als abhängiges Kind niemals hätten tun können. Wenn Ihre Mutter Ihnen sagte, sie möchte doch nicht ohne Sie ins Paradies gehen, wenn Sie wegen schlechten Benehmens in die Hölle des Teufels müssten, dann klang das für Sie womöglich wie eine liebevolle fürsorgliche Äußerung, die Sie jetzt erst als Sadismus durchschauen. Leider bleiben viele Menschen, Opfer solchen Betrugs, solcher Warnungen, ihr ganzes Leben gefangen und trösten sich mit Hoffnungen auf die Erlösung im Paradies. Sie haben sich für das Leben mit Ihrer wahren Geschichte entschieden, und ich kann Ihnen nur dazu gratulieren.