Zu kurzes Stillen

Zu kurzes Stillen
Thursday 12 April 2007

Sehr geehrte Frau Alice Miller!

Vor mehr als 20 Jahren habe ich ihr Buch “Am Anfang war Erziehung” gelesen.Ein Dankeschön für diesen Wegweiser in meinem Leben. In jedem Ihrer Bücher habe ich neuen Stoff zum Nachdenken gefunden, Sätze die mich in meinem Leben ein Stück weiter getragen haben.

In ihrem Buch “Evas Erwachen” schreiben Sie:
“… der Leche Liga (Stillgruppen) angehören. Die Frauen wollen möglichst lange ihr Kind stillen, da sie … Sofern es sich um das erste Lebensjahr handelt, stimme ich dieser Meinung völlig zu.” (S.138)

Aus meiner 20 jährigen Erfahrung als La Leche Liga Stillberaterin, Begleiterin von Frauen auf ihrem Weg ins Muttersein, möchte ich dazu gerne ein paar Fragen stellen.
Stillen ist Nahrung für den Körper Stillen ist Nahrung für die Seele Im Abstillprozess wird einem Kind diese Nahrungsquelle verweigert. Wie fühlt sich das Kind?

Nachdem ich Ihre Bücher gelesen habe, gehe ich davon aus, dass wir alle, die wir großteils zu früh abgestillt wurden, wissen wie sich dieses Kind fühlt. Zumindestens unser Körper erinnert sich an die Angst, den Schmerz, die Wut, die Resignation – geht es hier doch um Leben oder Tod.

Wie unterscheiden sich die Gefühle von einem 12 Monate alten Baby zu einem 24 Monaten alten Kind? Unterscheiden sie sich wirklich? Verschließen wir vielleicht auch hier unsere Augen vor den Bedürfnissen des Kindes, weil unsere eigenen Schmerzen so groß sind?

Ich habe Kinder erlebt die sagten: ” Mama jetzt bin ich groß. Jetzt brauche ich die MuMi (Muttermilch) nicht mehr!” (meist irgendwann im Alter zwischen 2 1/2 und 4 Jahren) Was braucht ein Kind um sagen zu können: “Nun bin ich so groß, dass ich mich ganz von meiner Mutter lösen kann, dass ich loslassen kann und alleine (selb-ständig) durchs Leben gehen und überleben kann?” Stillen (in einer “gesunden” Beziehung) ist für die Kinder ein Sicherheitsanker den sie aufsuchen können, wenn sie Hunger oder Durst haben, Trost brauchen, Liebesenergie tanken müssen, usw…

Wenn sie sich SELBER von diesem Anker lösen, ihn für immer loslassen heißt dies:

Sie haben die Tätigkeiten des Essens und Trinkens so gut trainiert, dass sie die notwendigen Kalorienmengen die sie zum Leben brauchen, in angemessener Zeit zu sich nehmen können. Sie können sich selbst beruhigen oder trösten oder haben andere Wege gefunden, wie sie sich in schwierigen Situationen helfen können. (Einschlafsituation) Auch für das Auftanken ihres “Liebessackes” (Ausspruch meiner Kinder) haben sie andere, ebenso effektive Möglichkeiten entdeckt. Sie können verbal schon so gut mit anderen kommunizieren, dass sie ihre Bedürfnisse und Gefühle auch ausdrücken können. usw. …

Ein Baby mit 12, 18, 24, … Monaten – ist dieses Kind dazu schon in der Lage??? Ist es schon so weit in seiner Entwicklung?

Löse ich als Mutter die Bindung meines Kindes zu diesem Sicherheitsanker vor seiner Zeit, bedeutet dies für mein Kind Stress. (Angst, Wut, Trauer, Resignation sind gerechtfertigte Reaktionen darauf.)

Warum sagen “Experten” zum Stillen nach dem 12. Lebensmonat nein? Warum werden Mütter von so vielen Seiten dazu gedrängt, manchmal dazu gezwungen abzustillen? Handeln diese vielen, meist selbst ernannten “Experten”, wirklich nur aus der Besorgnis um das Kind und/oder die Mutter heraus? Nachdem ich Ihre Bücher gelesen habe, kommen mir da Zweifel!

Meine Meinung: Kein “Experte” kennt den richtigen (guten, gesunden, perfekten) Zeitpunkt des Endes einer Stillbeziehung. Den richtigen Zeitpunkt für das Ende ihrer Beziehung können nur das jeweilige Kind oder seine Mutter bestimmen.

Liebe Frau Miller, sie haben mich durch ihre Bücher gefordert und beschenkt.
Ich möchte mich mit diesem Email gerne dafür bedanken.

Liebe Grüße von S. H.

AM: Vielen Dank für Ihren freundlichen und überzeugenden Brief. Ich habe früher genauso gedacht wie Sie. Dann bin ich im Laufe der Jahre Zeugin von Missbräuchen der kindlichen Abhängigkeit geworden, die mich für etwas hellhörig machten, das Ihnen offenbar noch niemals aufgefallen ist. Ich kopiere Ihnen meine Antwort vom 16.März 2006 an eine Leserin, die mir später sehr dafür dankte, weil sie merkte, dass sie bisher unbewusst dazu tendierte, ihr Kind als Partnerersatz zu benutzen, denn ihr Mann hatte für ein Jahr eine Stelle in einer anderen Stadt übernommen. Es muss nicht so sein, kann aber so sein, darum sollten wir versuchen ehrlich mit uns selbst zu sein und uns nicht auf Regeln oder Ideologien verlassen, die uns das Denken ersparen wollen. Hier meine Antwort auf den damaligen Brief:

Langes Stillen
Ihre Frage wurde mir schon häufig gestellt, meine Antwort führte meist zu Mißverständnissen, da alles, was ich schreibe, auf Beobachtungen beruht und nicht auf Ideologien. Es geht vor allem darum, daß jedes Kind sich den Wünschen der Mutter anpassen will. Wenn es spürt, daß die Mutter einsam ist und auf das fortgesetzte Stillen des Kindes emotional und sexuell angewiesen ist, wird es sich unter Umständen bis ins Alter von sieben Jahren so verhalten, daß sie meint, es brauche unbedingt ihre Brust. Dann mißbraucht sie meines Erachtens die echten Bedürfnisse des Kindes nach Autonomie für ihre Wünsche. Das kann dazu führen, daß bestimmte Chancen zur Entwicklung des eigenen Selbstbewußtseins, die gerade mit zwei, drei, vier Jahren vom Leben angeboten werden, verpaßt werden, und eine fast lebenslange Abhängigkeit von der Mutter zementiert wird. Wie überall, gilt es auch hier zu prüfen, wie weit unser Verhalten von unserer eigenen Kindheit (Mutter) geprägt wurde (zum Beispiel ob wir ausgebeutet wurden) und inwieweit wir uns frei fühlen, die wahren Bedürfnisse des Kindes zu erkennen. In manchen Stämmen, die viele Frauen so bewundern und sich zum Vorbild nehmen, werden Kinder sehr lange gestillt, um eine neue Schwangerschaft zu verhüten, doch kaum ist ein Nachkömmling da, wird das ältere Kind von einem Tag auf den anderen abgestillt und sich selber überlassen, und die Mutter widmet sich dem Neugeborenen mit dem gleichen Eifer. Waren es die Bedürfnisse des Kindes, die sie drei oder vier Jahre zu befriedigen suchte, oder waren es die eigenen?
(16. März 2006)

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet