filmgespräch

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Saturday 15 September 2007

Sehr geehrte Frau Miller,

für mein Filmprojekt über die Mißhandlung von einer Million Kinder in bundesdeutschen Heimen bis 1980 würde ich gerne ihre Ansichten hören. Ein Bekannter von mir, der beim “Spiegel” vor 18 Monaten Berichte und ein Buch zum Thema herausgebracht hat, bezieht sich auch auf Ihre Studien zur schwarzen Pädogik. Bisher gelingt es den kirchlichen und den staatlichen Verantwortlichen, die angemessene Auseinandersetzung mit dem Thema zu unterdrücken, somit auch die Demütigung der Betroffenen fortzuführen, die in wachsender Zahl um gesellschaftliche Anerkennung des Unrechts kämpfen. Doch ein immer stabiler werdendes Netzwerk aus Medienleuten, Pädagogen, Betroffenen macht einen Durchbruch ins öffentliche Bewußtsein immer wahrscheinlicher. Ich arbeite an der ersten umfassenden filmischen Dokumentation zum Thema. Unten sende ich Ihnen einen Ausschnitt aus dem Projekttext. Falls ich Sie Anfang Oktober für einen Gedankenaustausch mit der Kamera in der Schweiz aufsuchen könnte, wäre ich sehr dankbar. Zwischen dem 1. und dem 10.10. bin ich relativ flexibel in Ihrer Nähe in Turin.

Mit freundlichem Gruß, Peter Volkmann, Produzent&Regisseur

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DIE REPUBLIK VERRÄT IHRE KINDER

Ein Film von Peter Volkmann ; Projektbeschreibung

Ein Mädchen wird nachts aus dem Bett geholt. Im Hof muß es in die kalte Erde eine Grube graben. Dann erfährt es, daß dies sein Grab sei, wenn es sich nicht bessere. Was war das Vergehen des Kindes? Es hatte in den Augen der Nonne nicht so innig gebetet, wie gebetet werden soll.
Eine schwangere Jugendliche bekommt während des allmorgendlichen Kirchgangs die Wehen. Sie wird rausgeschickt auf den Gang, wo die Fruchtblase platzt und die Geburt ihrer Tochter einsetzt. Eine Nonne wirft ihr Putzsachen hin, damit sie zuerst die ‘Sauerei’ wegmacht, die sie da hinterlassen hat, danach geht es ins Krankenhaus. Das Kind verbringt seine ersten Jahre getrennt von der Mutter wie die anderen Babys in diesem Heim: wenn es ihr gelingt, die Tochter zu sehen, steht diese neben den anderen Kindern schaukelnd und mit dem Kopf wackelnd im Bett; mit Windeln an den Gitterbetten angebunden. Weil es nicht ärztlich versorgt wird wie die Bürgerskinder auf der anderen Straßenseite, ist das Kind lebenslang an der Hüfte behindert.
Ein Mann aus München steht in Rom im Petersdom und weiß nicht mehr, wie er hierhergekommen ist. Als er ein Kind war, gab es nur einen einzigen Ort, an dem er sicher war vor den Folterqualen, die die Erzieher den Zöglingen zufügten: im Kirchenraum; während man dort unter dem Jesuskreuz kniete und unbehelligt blieb, drangen die Schreie der Leidensgenossen aus den Zellen herauf. Als Erwachsener sucht er zwanghaft Kirchenräume auf, um Angstattacken auszuhalten.

Geschichten aus fernen Ländern? Oder Geschichten aus Deutschland, doch aus fernen Zeiten?
Keineswegs. Die Menschen, die dieses Land aus der Perspektive erniedrigter und ausgebeuteter Kinder erlebt haben, sind unter uns; viele Hunderttausend, die nach den Jahren der Demütigungen gelernt haben, sich unscheinbar zu machen, im Schatten zu leben, um zu überleben. Die Isoliertheit, in die diese Menschen von frühester Zeit an getrieben wurden, sicherte auch das auf die Heimzeit folgende jahrzehntelange Schweigen. Nun, nach dreißig, vierzig Jahren, je nach der einzelnen Biographie, bricht die Mauer des Schweigens.
Das Magazin ‘Der Spiegel’ finanzierte seinem Autor Peter Wensierski jahrelange Recherchen zu diesem Themenkomplex, der 3000 Erziehungsheime einschließt, davon 80% in kirchlicher Hand. Mindestens 600 000 Menschen waren und sind als Opfer betroffen. Möglicherweise auch eine Million.
Die Veröffentlichung in Buchform änderte Vieles: Menschen, die ihre Scham jahrzehntelang bewegt hatte, ihren eigenen Partnern und Kindern nichts zu sagen oder Lügen über ihre Jugend zu erfinden, äußern sich öffentlich, Netzwerke bilden sich, nach Monaten des Aufschiebens und Infragestellens öffnet endlich der Petitionsausschuß des Bundestags die Tür und hört im Dezember 2006 die Berichte von neun ehemaligen Heimkindern an.
Es ist das erste Mal in der Geschichte des Ausschusses, daß die Betroffenen selbst anstatt von Sachverständigen gehört werden.
Ein Runder Tisch, an dem die verantwortliche Caritas, die verantwortliche Diakonie und die verantwortlichen staatlichen Wohlfahrtsverbände die Fragen der Aufklärung und der Entschädigungsleistungen mit dem Opferverband und dessen Anwälten behandeln sollen, wird umständlich anberaumt, dann von Januar auf März 2007 verschoben. Mehr Bedenkzeit wird erbeten; nach 30 Jahren Verdrängungszeit werden noch zwei Monate rausgeholt: die Konfrontation mit der Wirklichkeit weiter meiden, den Konsequenzen für die eigenen Verfehlungen ausweichen? Das Maß der schuldhaften Verstrickung steigt mit jedem weiteren Monat an.
Bischof Huber, oberster evangelischer Kirchenmann, im März 2006 zu den Grausamkeiten an Kindern in Erziehungsheimen:
“Erst jetzt finden etliche Betroffene den Mut und die Kraft, über das dort Erlittene zu sprechen. Es erfüllt uns mit Scham, was dabei zutage tritt. Aber wir dürfen uns davor nicht verschließen; denn wenn dieses Unrecht nicht beim Namen genannt wird, wird die Würde der betroffenen Menschen heute genauso verletzt wie damals. …..!” Und so geschieht es: das Unrecht wird weiter ausgeschwiegen, die Entwürdigung wird fortgeführt.

AM: Danke für Ihren Brief, ich stimme Ihnen in allem zu, dieser Skandal muss wahrheitsgetreu und ohne Anbiederung an die Kirche gezeigt werden. Ich bin froh, dass Sie den Mut dazu haben. Wenn Sie meine Ansichten interessieren, kann ich Ihnen gerne alle Ihre Fragen per e-mail beantworten und Sie, wenn Sie es wollen, auch beraten. Doch ich mache keine Interviews mehr vor der Kamera, das ist mir viel zu umständlich und mE auch nicht nötig. Ich nehme an, es geht Ihnen jetzt nur um die SACHE und nicht um meinen Namen, nicht wahr?

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet