Dinge beim Namen nennen

Dinge beim Namen nennen
Tuesday 22 December 2009

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Sehr geehrte Frau Miller,

ich entdeckte zunächst das „Drama des begabten Kindes“ und weitere Ihrer Bücher für mich, und später Ihre Homepage mit den zahlreichen so treffenden Artikeln. Neben den Ihren haben mich auch die Artikel aus der Feder von Thomas Gruner sehr beeindruckt und manchmal fassungslos hinterlassen, spiegeln sie doch genau, was ich erlebt habe.

Zum ersten Mal lese ich Ansichten zum Thema Kindheit (und deren Folgen), die mich nicht mit massivem Unbehagen zurücklassen oder dem Gefühl, längst nicht bis zum Kern der Angelegenheit vorgedrungen zu sein.

Ein kurzer Abriss dessen, was ich in meinem Leben erlebte: Ich wuchs in einer klassischen Kleinfamilie mit einer älteren Schwester auf. Nach außen hin war eigentlich immer alles „in Ordnung“. Als ich aus dem Haus ging, um zu studieren, war ich traurig und haltlos und zu dem Zeitpunkt im Grunde schon depressiv, aber das wusste ich damals nicht. Ich stand nur unter dem Druck, Erwartungen erfüllen zu müssen und glaubte, wenn ich mich mit allem nur genug anstrenge, dann „werde das schon“. Der Beginn meines Studiums ist inzwischen fast dreizehn Jahre her, und ich war in der Zwischenzeit immer auf der Suche nach den Gründen für mein offensichtliches Nicht-Funktionieren. Meine Depression steigerte sich so sehr und ich fühlte mich so lebensunfähig, dass ich dann doch im November letzten Jahres eine Therapie begann. Noch vor Beginn der Therapie begann ich dem Gedanken mehr Raum zuzugestehen, dass meine Kindheit ursächlich sein könnte für mein Mir-fremd-Sein und meine völlige Desorientierung und Verzweiflung. Das war eine Kindheit mit zeitweiliger Trennung und dauernden Streits meiner Eltern, eine Kindheit mit unermesslichem Leistungsdruck und zudem Mobbing in der Schule, eine Kindheit mit Schlägen und schließlich – auch wenn es mir schwer fiel, dieses Wissen bis zu meiner Seele vordringen zu lassen – mit sexuellem Missbrauch durch meinen Vater. Es war eine Kindheit mit Suizidgedanken und schweren Migräneattacken, mit innerem Exil und grenzenloser Einsamkeit, mit scharfer Geschwisterkonkurrenz und ungeheurem Misstrauen. Sich wiederholende Muster machen mir das Leben schwer bis heute, da ich sie erkenne und zu verstehen beginne.

Im Grunde hungerte ich in meinem Leben nach nichts mehr als nach der Anerkennung und Liebe meiner Eltern, und ich musste 33 darüber werden, um zu begreifen, dass sie mich nicht liebten und auch heute nicht lieben. Vergangene Weihnachten brach ich den Kontakt zu meinem Vater ab, nachdem er es unter den Augen meiner Mutter und meines Mannes wagte, mir an die Brust zu greifen – da fiel ein Schalter in mir um und mir war klar, dass dieser Mann mich immer weiter demütigen würde, wenn ich ihm die Gelegenheit dazu gäbe. Seit dieser Zeit traf ich auch meine Mutter nur noch einmal zu einem ausführlicheren Gespräch. Ich musste erkennen, dass sie das, was ich in meiner Kindheit erlebt hatte, auch nach deutlicher Benennung der harten Fakten meinerseits für harmlos, spaßig, normal und „gut gemeint“ hielt. Sie beharrte auf einem sturen „Eigentlich hattet ihr es doch gut als Kinder!“, und mein vehementes „Nein!“ kam nicht bei ihr an. Sie blieb kalt und hart und zog sich in ihr eigenes Leid zurück, so wie sie es immer tat. Erst dadurch wurde mir klar, wie viel auch sie zu dem Schaden an meiner Seele beigetragen hat.

So schmerzhaft all diese Veränderungen in diesem Jahr waren, so wichtig waren sie auch für mich. Ich hatte zum ersten Mal die Kraft und den Mut, Dinge zu benennen, so wie sie waren. Ich erzählte meinem Mann von dem ganzen Ausmaß des Missbrauchs, und er gab und gibt mir seinen vorbehaltlosen Beistand (was daran liegen mag, dass er der erste und einzige Mann für mich war, der grundsätzlich verschieden von meinem Vater war und mit dem ich das für mich riesengroße Risiko einging, andere Erfahrungen zu machen). Ich lernte, wütend auf meine Eltern zu sein und zu erkennen, dass der Verlust ihrer Zuneigung für mich kein eigentlicher Verlust war. Ich spüre tagtäglich, dass die Symptome meiner Depression fast schlagartig milder werden, wenn ich ein altes Gefühls-Muster erkenne und seine Herkunft in dem schädlichen Verhalten meiner Eltern verorte, und wenn ich mich traue, darüber aus ganzem Herzen zornig zu werden und die Schuld für alles endlich nicht mehr in meiner Fehlerhaftigkeit als ihr Kind zu suchen. Besser geht es mir auch, wenn ich meine eigene Machtlosigkeit im Hier und Heute anerkenne, meine Eltern zu verändern und sie dazu zu bewegen, mich doch so zu sehen, zu hören und zu lieben wie ich bin. Das werden sie niemals. Nicht, weil ich etwa nicht liebenswert wäre, sondern weil sie es schlicht nicht können.

In meinem Therapeuten fand ich den „wissenden Zeugen“, von dem sie so oft schreiben. Sicher ein mit Fehlern behafteter Mensch wie jeder andere, aber jemand, der vollkommen hinter mir steht und seinen Beruf versteht. Er kam mir noch nie mit irgendwelchen Maßregeln, Richtlinien oder Ähnlichem. Ich erzählte ihm vor Kurzem von meinem Zweifel an der vollen Verantwortlichkeit meines Vaters für sein Handeln. Desgleichen kommt immer mal wieder in mir hoch, und dann suche ich nach den Mängeln und Problematiken in der eigenen Geschichte meines Vaters. Mein Therapeut bekräftigte mich darin, aus diesem zweifelhaften Mitgefühl auszusteigen. So konnte ich bei mir bleiben und meine eigenen Schmerzen bewältigen, anstatt mir die Schuldigkeit aufzuladen, auch noch meinen Vater verstehen zu müssen.

So vieles habe ich zum Thema Eltern-Kind-Verhältnis gelesen. Und über so vieles bin ich wütend geworden. Immer kamen mir wieder Bücher in die Hand, in denen behauptet wurde, eine Bewältigung der eigenen Vergangenheit sei nur über das Verzeihen möglich. Es ist zwar schön, wenn es einem dann möglich ist, mit gelassener Distanz zu sagen: „Gut, Verzeihen ist nicht mein Ding, also lasse ich es!“ Aber in der Tiefe einer Depression kommen Gedanken wie „Etwas mit mir muss falsch sein, dass ich meinen Eltern nicht verzeihen will und kann!“ oder sogar so verhängnisvolle wie „Es kann ja in Wirklichkeit alles nicht so schlimm gewesen sein, wenn auch andere in der Lage sind, ihren Eltern zu verzeihen!“ Diese Gedanken quälten mich, und es ärgerte mich die fraglose Glorifizierung der Eltern, die ich in so manchem Buch fand.

Es ist tragisch genug, dass ich ein Drittel meines Lebens vertan habe damit, durch angepasstes Verhalten bis hin zur vollständigen Selbstverleugnung um ihre Anerkennung und Liebe zu ringen. Inzwischen habe ich verstanden, dass kein Mensch das Recht hat, mir auch noch einzureden, das sei gut so. Es braucht wohl nur immer wieder neue Versuche, bis diese Botschaft auch meine Seele erreicht. Aber jetzt kann ich damit anfangen, mich zu spüren und meine Gefühle und Eigenarten auch anzuerkennen.

Dazu haben Sie mit ihren Büchern und Artikeln sehr beigetragen. Vielen Dank!

Freundliche Grüße, UN

AM: Sie schreiben: “ Ich hatte zum ersten Mal die Kraft und den Mut, Dinge zu benennen, so wie sie waren“. Dieser kurze Satz fasst zusammen, was Sie hier erzählen, eine Geschichte des Leidens war nötig, um diesen Mut zu bekommen, aber Ihr Brief zeigt, dass sich diese Geschichte gelohnt hat. Nicht viele Menschen nehmen dieses „Risiko“ auf sich.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet