Die Stimmen der einst verängstigten, geschlagenen Kinder
Thursday 20 April 2006
Sehr verehrte Frau Miller,
vor zwei Wochen bereits habe ich Ihnen über die empörenden Äußerungen des brandenburgischen Innenministers Jörg Schönbohm in einer Fernseh-Sendung zur Randale an Berliner Schulen geschrieben. Er sprach damals davon, daß man Kinder “domestizieren” müsse. Inzwischen hat die Journaille das Thema freudig aufgegriffen – und die neue Bundesministerin für Familie und Erziehung, Ursula von der Leyen, reagiert mit politischen Aktionismus. – Übrigens ist sie Ärztin und Mutter von sieben Kindern -. Frau von der Leyen hat heute ein “Bündnis für Erziehung” initiiert; gemeinsam mit Vertretern der katholischen und der evangelischen Kirche. Andere Glaubensgemeinschaften sind ebenso nicht dazu eingeladen worden wie Erzieher, Lehrer oder gar Eltern. Kinder und Jugendliche kommen überhaupt nicht zu Wort. Mit diesem Bündnis beabsichtigt die Ministerin, wieder stärker christliche Werte in eine “konsequentere” Erziehung einzuführen. Was soll das heißen? Wird hier schon im Kindergarten die Wurzel gesetzt für den “Kampf der Kulturen”? Soll hier Allah mit dem Lieben Gott ausgetrieben werden? Diese Christianisierung der Erziehung hat natürlich noch weitaus andere Ziele… Wieder unterhält sich eine Ministerin mit den alten Männern der Kirche, die ihr den richtigen Weg weisen sollen – das Zuhören bei den Betroffenen interessiert gar nicht; wieder soll von oben herab gepredigt und “erzogen” werden. Wieder geraten Kinder und Jugendliche in den Generalverdacht, von Anfang an, ungeschlacht, unwürdig, dumm und gefährlich zu sein. Auswirkungen dieser dummen Absichten gibt es bereits: zu Beginn dieser Woche durfte ausgerechnet der “Erziehungsexperte” Henry Maske, ehemaliger Box-Weltmeister und Mitorganisator von Jugendinitiativen in den Neuen Bundesländern, seine wohlfällige Meinung zu gewalttätigen Schülern absondern: “Es müsse auch wieder möglich sein, die Kinder und Jugendlichen mit einem Klaps, körperlicher oder psychischer Art, zu Raison zu bringen. Nicht, um sie zu verletzen, sondern um sie aufzuschrecken!” So weit also ist es schon wieder – daß ein Boxer Erziehungsideale im Fernsehen aufstellen darf. Übrigens werden die Migrantenkinder in den in Frage kommenden Schulen sich wenig machen aus den “Christlichen” Idealen – in Städten sind mitunter 80 Prozent der Schüler Muslime.
Als Journalist habe ich heute zum “Bündnis für Erziehung” ein Interview mit einem bekannten deutschen Erziehungswissenschaftler geführt. Er hatte nur Allgemeinplätze zu bieten: ein solches Bündnis sei genrell wünschenswert, natürlich müßten in die Diskussion auch andere gesellschaftlich relevante Gruppen einbezogen werden. Und statt auf Konsequenz solle man lieber auf den Dialog setzen!” Ganz offenbar möchten sich selbst Hochschullehrer nicht sonderlich hervortun mit einer dezidierten Meinung angesichts knapper werdender Forschungsgelder. Und Sponsoren aus der Wirtschaft findet man zum Thema Kinder und Erziehung wohl kaum.
Auch die Medien tragen nichts Gescheites zum Thema bei – da muß ich meinen eigenen Berufsstand tadeln. Schlagzeilen lassen sich machen mit türkischen Jugendlichen, die ihre Lehrer verprügeln oder mit jungen Rechtsradikalen, die in Potsdam wieder einen Mordanschlag verübt haben. Da kann man sich wunderbar über die verwahrloste Generation aufregen. Als Ausweg werden die Methoden des 19. Jahrhunderts wieder aus der politischen Schublade geholt – “Immer feste druff” war nicht nur das Motto des Feldherrn Blücher; noch immer wird geglaubt, man müsse an Kindern herum(er)ziehen und sie ständig korrigieren und sie womöglich mit den christlichen Mitteln Schuld und Sühne und schlechtem Gewissen auf den”rechten Weg” bringen.
Es ist wahr, daß eine große Anzahl von empathielosen Monaden heranwächst, denen das Handy und die Markenklamotten wichtiger sind als die Unversehrheit ihrer Mitschüler oder sogar der Lehrer. Aber diese Teilnahmslosigkeit, das versuchen Sie ja schon seit bald drei Jahrzehnten aufzuzeigen, liebe Frau Miller, kann nicht “weg”erzogen werden – schon gar nicht mehr in der Schule, dann ist es oft schon zu spät. Was soll das Gerede von christlichen oder staatlichen Erziehungsidealen, von Leitkultur, wenn es im kleinsten Kreise zwischen Eltern und Kindern keine Zuneigung, Unbefangenheit und Liebe gibt. Es gäbe noch viel zu dieser “Geistig-moralischen Wende” der Familienministerin zu kommentieren – aber der Versuch eine solche Wende zur Zeit der Kohlregierung herbeizuschwafeln, ist ja auch Gott sei Dank im Sande verlaufen. Aber leider beherrschen solche Themen zur Zeit die öffentlichen Debatten in Deutschland.
Herzliche Grüße – W.B.
AM: Danke für Ihren Beitrag, den wir gerne veröffentlichen, weil es so selten vorkommt, dass sich jemand nicht von angesehenen Politikern blenden lässt. Die Angst, selbstständig zu denken und zu fühlen, die Tendenz, beides den Kirchen zu überlassen, die aber beides nicht tun, sondern nach überholten Schemen reden, ist erschreckend. Es scheint, dass wir wirklich ins Mittelalter hinabrutschen, wenn nicht ein Wunder passiert. Aber woher soll das Wunder kommen, wenn alles heute nur vom Geld kommen kann….und vom Schwachsinn der Presse und anderer Medien, die ja auch von ihren Geldgebern leben? Es ist erschreckend, dass sich nirgends eine Stimme hören lässt, die anders wäre als die Stimmen der einst verängstigten geschlagenen Kinder.