Kuraufenthalt

Kuraufenthalt
Saturday 14 April 2007

Sehr geehrte Frau Miller,

ich möchte Sie gerne in einer Sache um Rat fragen, in der ich überhaupt nicht mehr weiter weiß.

Ich befand mich vor zwei Jahren in einer Kurklinik im Allgäu in einer Abteilung für Traumapatienten. Es hat mir dort während des Aufenthalts gefallen und ich hätte mich eigentlich über nichts beschweren können.

Dann las ich einige Zeit später den Entlassungsbericht. Ich wurde durch ihn in höchstem Maße retraumatisiert.
Er war kalt geschrieben, enthielt sehr verletzende Worte und eine Fehldiagnose: NPS. Woher weiß ich, dass es sich um eine Fehldiagnose handelt? Das weiß ich deshalb, weil ich inzwischen Bücher darüber gelesen habe und feststellen musste, dass dieses Krankheitsbild nicht mit mir übereinstimmt. Ich habe auch ihr Buch gelesen: Das Drama des begabten Kindes, in dem das Krankheitsbild erklärt ist. Von den erforderlichen Diagnosekriterien ist auch kein einziges erfüllt. Ich habe über die Diagnose mit genau vier Personen gesprochen, alle haben sich gleich geäußert: Da wurde aus Schlamperei einfach irgendwas hingeschrieben nach der Methode: Welche Störung hat sie denn jetzt? Keine Ahnung. Ach, dann nehmen wir doch einfach mal das. Die erste Reaktion der Psychologin, die mich zum damaligen Zeitpunkt viereinhalb Jahre kannte, lautete: “Die haben dringend nach einer Störung gesucht und keine gefunden und dann haben sie einfach das genommen. Nehmen Sie sich einen Gegengutachter”. Die Beziehung zu dieser Psychologin entwickelte sich so unerfreulich, dass sie mich zum Schluss im Stich gelassen hat, weil sie keinen Ärger haben wollte. Sie wollte nicht mal eine Stellungnahme abgeben. Sie hat gesehen, dass es mir vor ihren Augen immer schlechter und schlechter gegangen ist, weil ich in höchstem Maße retraumatisiert wurde, aber es hat sie nicht interessiert. Sie wollte keine Stellungnahme abgeben (“Ich will das nicht machen”). Sie ist einfach weggelaufen. Ich bin also gleich von zwei Leuten misshandelt worden, von der Ärztin in der Kurklinik und der Psychologin. Bei der Entlassungsberichtschreiberin handelt es sich um eine Ärztin für Geburtshilfe und Gynäkologie. Was sie für eine therapeutische Zusatzausbildung hat, das weiß ich nicht. Ich fand aber auf der homepage der Klinik die Information: Unser Therapiekonzept ist psychoanalytisch und verhaltenstherapeutisch kognitiv orientiert. Die Ärztin ist der Meinung, dass man nach vierzig Jahren keine PTBS mehr haben kann und eine PTBS immer in eine Persönlichkeitsstörung übergeht. Das ist ganz eindeutig falsch!! PTBS-Symptome kann man bis an sein Lebensende haben und eine PTBS geht nicht immer in eine Persönlichkeitsstörung über. Nur ein Teil dieses Personenkreises entwickelt eine Persönlichkeitsstörung. Sie haben ja den besseren Überblick über das Ganze. Lernt man einen solchen Unsinn in einer psychoanalytischen Ausbildung? Da wird ja dann praktisch alles umgedreht. Sowie die Diagnose PTBS weggelassen wird, sind ja dann praktisch die Täter alle weg. Zurück bleibt ein “gestörtes” Wesen, das für alles selber verantwortlich gemacht wird. Ich habe durch das Verhalten der Ärztin und die Diagnose das Gefühl bekommen, dass ich selbst für die Verbrechen verurteilt werde, die andere begangen haben. Ich wurde dadurch in ein Meer von Traurigkeit hineingestoßen. Dazu kommt, dass sie auch noch falsch ist.

Es ist jetzt schon zwei Jahre her und jedes Mal, wenn ich an den Bericht denke, dann fange ich an zu weinen. Ich kann mich bis heute überhaupt nicht beruhigen. Wenn ich an diese Ärztin denke, dann sehe ich immer dasselbe Bild vor mir: Sie steht in einem Behandlungszimmer und hat einen weißen Kittel an. In der Hand hält sie eine Zange und an der Zange klemmt ein behinderter Embryo. Dann geht sie zum Mülleimer und schmeißt den Embryo in den Mülleimer. Dieses Bild repräsentiert das Gefühl, das ich hatte, als ich den Bericht gelesen habe. Ich selbst war bei meiner Geburt ein erwünschtes Kind und kam zwölf Monate nach der Hochzeit zur Welt. Es kann also nur die Ärztin die Person sein, die solche Botschaften in der Weltgeschichte verteilt. Und so jemand arbeitet in einer Traumabteilung. Es kann sein, es ist sogar wahrscheinlich, dass auch Missverständnisse eine Rolle spielen. Diese Ärztin hat mich z.B. nur fünf !! Stunden gekannt. Man kann doch nicht in fünf Stunden einen Menschen beurteilen! Es ereignete sich z.B. Folgendes: Ich saß mit den Mitpatienten beim Essen und einer fing auf einmal an, über Adolf Hitler zu reden. Dann kam mir ein schlimmes Kindheitserlebnis in den Sinn. Ich befand mich im Alter von sechs Jahren einmal in einer Gaskammer. Es handelte sich um eine Küche. Zum Glück wurde ich gerettet. Von da an habe ich dann in den Gesprächen mit der Ärztin dann nur noch um mein Leben geredet, weil ich (damals unbewusst) Angst hatte, dass sie mir etwas antut. Ich erzählte dann dauernd, wie toll ich bin, was ich alles für tolle Talente habe usw. Sie dachte dann wahrscheinlich, ich rede immer so. Das war aber nur eine Momentaufnahme.
Irgendwie habe ich auch das Gefühl, dass die Ärztin die Diagnose deshalb erfunden hat, um sich selbst zu schützen, weil sie einiges, was ich erzählt habe, nicht aushalten konnte. Das ist mein Gefühl. Es kann auch sein, dass ich damals versucht habe, sie runterzumachen, vor lauter Angst. Als „Dank“ dafür hat sie mir dann ein Messer in den Rücken gehauen.

Ich habe schon viermal den Chefarzt angeschrieben, aber er leitet immer nur die Briefe an die Abteilung weiter. Die werden freiwillig nie einen Fehler zugeben. Ich kann aber mit einer solchen falschen Diagnose nicht leben. Es ist richtig, dass ich ein Selbstwertproblem habe, aber die meisten Symptome, die in diesem Krankheitsbild beschrieben werden, habe ich nicht.

Ich glaube, wenn ich vor Gericht gehen würde, dann würde ich mir nur selber weh tun. Ich würde noch mal verletzt werden.
Und wer weiß, was dabei herauskommt. Ich habe noch nie im Leben so extrem auf etwas reagiert. Ich hatte mit dieser Ärztin die Diagnosen abgesprochen und sie hat dann etwas anderes in den Bericht geschrieben. Sie hat mich hintergangen.
Meine Hausärztin hält noch zu mir. Ihre Meinung: Die Diagnose ist falsch. Das war Schlamperei. Sie unterstützt mich wenigstens moralisch.

Können Sie mir irgendetwas sagen, das mir hilft, damit ich nicht mehr soviel weinen muss?

Mit freundlichen Grüßen, B. K.

AM: Es ist ein Skandal, was Ihnen da geboten wurde, und dies noch in einer sog. Traumaklinik. Aber Sie haben Recht, dass eine Gerichtsverhandlung Ihnen nur neue Schmerzen bringen könnte und keine Erleichterung. Ich würde an Ihrer Stelle das Weinen nicht abstellen wollen, sondern das Kind fragen, was es Ihnen mit dem Weinen mitteilen möchte. Vielleicht will es immer wieder sagen, wie sehr das wehtut, wenn man sich so betrogen fühlt. Es hatte doch dieser Frau so viel von seinen Schmerzen anvertraut, in der Meinung, dass sie es WISSEN WOLLTE, dass sein Leiden dort bei ihr angekommen sei, dass diese Frau sich für seine Geschichte interessiere. Und nun diese Grausamkeit, sie sagt unverhüllt: Für mich bist du niemand, irgendein Diagnosenträger, aber kein Mensch. Das ist ja fürchterlich, und das Kind tut gut, wenn es weint. Vielleicht können Sie schreiben und Ihre Gefühle dann aufs Papier bringen. Der Richter wird Ihre Gefühle kaum verstehen, aber Sie könnten das tun. Dazu wünsche ich Ihnen viel Mut.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet