In der Verwirrung der Heuchelei

In der Verwirrung der Heuchelei
Wednesday 26 November 2008

Liebe Frau Miller,
vielen Dank für Ihre schnelle Antwort. Ich habe mich sehr darüber gefreut,
denn dieser erste eine Satz ist genau das, was ich auch fühle! In meinem Brief
ist es nicht so deutlich geworden ,deshalb möchte Ihnen noch sagen, dass das
Buch : Das Drama…” für mich wie eine Offenbarung war! Denn ich habe
das, was Sie dort z.T. beschreiben und erklären, ERST erlebt und dann so
bestätigt gefunden. Was mir einige Zweifel nahm und vor allem das belastende
“Verhältnis” zu der Therapeutin klären half. Hätte ich Ihr Buch VOr
meinem ERLEBEN gelesen, hätte ich es nicht geglaubt! Zumal es ziemlich
schwierig ist, jemanden, und sei es man selbst, beizubrigen, WIE man diesen
Schmerz, die Trauer, die Wut.. so erleben kann. Das kam ja irgenwo von innen,
das ist etwas, was man nicht mit dem Verstand beeinflussen kann. Glaube ich.
Aber nun noch einmal zu meiner Aber Frage. Ich habe das Nachwort in “Wege
des Lebes” gelesen und ich finde die Antwort nicht. Denn dort ist die Rede
von einem schweren Missbrauch, von einem Vater, der wirklich wohl nie an das
Seelenleben des Kindes dachte und der sich später durch sein Geständnis wohl
nur Erleichterung für sich selbst erhoffte. Ich jedoch meine die Eltern, die
ihre Kinder lieben, die aus besten Wissen(erlerntem Verhalten) und Gewissen ihre
Kinder mit falschen Methoden “erzogen”, die trotzdem ihren Kindern
verbunden sind (ich denke da auch reuevoll an mich als Mutter, ich habe wohl
selber oft an meinen Kindern falsch gehandelt, das weiß ich heute, und es tut
mir unendlich leid!!!) Aber ich wusste es damals nicht besser.
Ich meine also die Eltern, die ihren Kinder auch Gutes geben konnten uind die
dennoch oft Grenzen überschritten. Sie können zwar sagen, man vergibt seinem
Vergewaltiger, Folterer … auch nicht, doch der Unterschied besteht doch darin,
dass von diesen Menschen auch nicht Gutes kam. Sie haben nie das Opfer
getröstet, nie mit ihnen geschmust, ihnen nie gezeigt, dass sie doch auch
geliebt werden. Bei diesen Eltern (und dazu zähle ich mich auch) existiert doch
auch die Liebe neben den menschen-verachtenden Taten. Diese Liebe mag falsch
verstanden, falsch gelebt werden, aber es ist Liebe!
Warum sollte sich das Kind dann später emotional so radikal von den Eltern
abwenden, wie ich glaube, aus Ihren Worten zu lesen? Kann das Kind nicht die
Wut, den Schmerz…zulassen/anerkennen, aber auch das Stück Liebe fühlen, das
dort bei den Eltern war? Schliesst sich beides gegenseitig aus?
Ich würde mich freuen, wenn Sie mir hier eine eindeutige Antwort geben
könnten
> Nun das
> Aber. Eltern haben oft nicht nur Schlechtes getan, auch wenn sie die
> Entwicklung
> ihres Kindes so stark schädigten, dass es den Rest seines Lebens daran
> leiden
> wird. „Normale“ Eltern haben auch Liebe gegeben, Berührungen,
> Zärtlichkeiten, Wärme…vieles mehr. Nur eben nicht immer! Aber trotzdem
> ist
> in meinem Herzen auch noch ein kleines Stück Liebe, Verzeihung? Können
> nicht
> beide Gefühle, die Liebe und der Hass nebeneinander bestehen? Schließen
> sich
> beide aus? Hass ist doch verwandelte Liebe, oder?
>
> —

AM: Ja, ich meine, Grausamkeit und Liebe schließen sich gegenseitig aus. Man muss den Mut und die Einsicht haben, sich einzugestehen, dass man zur Liebe nicht fähig war, weil man sie nie erfahren hat. Man hat nur Heuchelei erfahren und gelernt. Dies setzt man fleißig fort und bietet sie den eigenen Kindern an, statt sich die Wahrheit einzugestehen, dass man eben leider nicht geliebt war, sonst wäre Grausamkeit NICHT möglich gewesen. Nur mit diesem Eingeständnis kommt man auf den Weg zur emotionalen Redlichkeit und aus der Verwirrung der Heucheleiund Lüge heraus. Sie haben das Nachwort zu Wege des Lebens NICHT VERSTANDEN. Es war ein Vater, der eben NETT mit dem Kind gespielt hatte, die Grausamkeit des Inzests offenbarte sich erst Jahrzehnte später dank der körperlichen Symptomatik und der Therapie der erwachsenen Tochter. Mit Ihrer Philosophie, die Sie mit der Mehrheit teilen, können die Menschen eben nie den Teufelskreis der Heuchelei verlassen. Wie kommen Sie darauf, dass der “Hass die verwandelte Liebe sei”? Mit solchen Verwirrungen werden vielleicht manche Kinder von klein auf gefüttert.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet