Unbewußte Eltern

Unbewußte Eltern
Tuesday 08 December 2009

Liebe Frau Miller,

ich finde es ganz erstaunlich, wie Sie mit ihren Titeln, Überschriften, immer sehr genau auch den wunden Punkt benennen und zugleich bezeugen. Obwohl mir das beim ersten Lesen naturgemäß nicht immer zur Gänze auffällt. Spüren tue ich es gleich und ich glaube, das tun alle, die Sie lesen. Ihren Buchtitel Jenseits der Tabus habe ich erst jetzt verstanden. Als einen Anfang, wieder einen Anfang. Wieder etwas Neues. Es ist wirklich erstaunlich, das habe ich Ihnen schon gesagt, jetzt sage ich es noch einmal, dass mit jedem Ihrer Titel und mit jedem Ihrer Texte, wieder etwas Neues hier entsteht. Als ich das folgende schrieb, wusste ich selbst nicht, dass es eine Art Anfang war.

Herzliche Grüße, Hugo Rupp

Mein Tabu wird von meinen Eltern an mich, das Kind mit Schuld herangebracht. Mein Wunsch dieses Tabu zu verletzen, oder hinter das Tabu zu schauen, wird mit Schuld und Scham bestraft.

Jetzt ist aber Schluss!

Warum?

Weil ich es sage!

Warum?

Weil sonst der Watschenbaum umfällt.

Das Tabu wird mit Gewalt geschützt.

Sind die Eltern unverletzlich?

Gibt es Tod auch in den Eltern. Kann ein Vater sterben? Oder soll er niemals sterben? Kann es keine Liebe geben, oder muss ein Kind die Eltern lieben. Muss ein Kind verzeihen? Muss das Kind die Eltern schützen und nicht umgekehrt? Muss die Mutter ihre Kinder lieben? Liebt die Mutter mich? Liebt die Mutter, mich das Kind?

Nein, sage ich.

In mir ist nur eine Wand, aufgerichtet aus Verboten, aus dem Sollen, Wollen, meiner Eltern. All das Ungesagte, nie Gesagte, auch nicht einmal Ausgesprochene. All die Blicke, Seitenblicke, all die Köpfe, die sie drehten, all die kleinen Zeichen im Gesicht, die ich schon als Kind verstand, als ein Zeichen ihrer Wünsche, nichts zu sagen, nichts zu sagen, nicht zu sagen wollen, wie es selber war. Wie es auch für sie gewesen ist. Alle Blicke gehen in die Richtung ihrer Kindheit. Alle Wege führen nur dorthin. Nur nichts sagen, nur nichts sagen. Nur nicht über meine Schmerzen reden. Nur die Schmerzen nicht erwähnen, nur nichts über Schmerzen sagen, denn, sonst gehen sie ja niemals weg. Doch die Schmerzen kehren immer wieder, kommen mit dem Morgen an. Sind nie weg gewesen. Sind am Anfang jeden Tages. Leuchten aus den Augen, schauen in die Welt, suchen nach dem endlich weg und verschwinden und dann nie mehr wieder sehen, aus der Welt; gedankenlos. Suchen einen Ausweg aus sich selbst.

Wie soll nicht erkannte Trauer sich auflösen?

Wie soll nicht erlaubter Schmerz aus einem Körper weichen?

Wie soll eine Wunde heilen, die doch nie gesehen wird?

Wie soll Seele jemals heilen, wenn es keine Seele gibt für dich?

Wie soll jemals Schmerz vergehen, wenn dein Schmerz nicht einmal sichtbar ist?

Wer Gewalt als solche nicht erkennt, wenn sie auf den Körper trifft, kann sich selbst nicht einmal retten, weil er seine Sicht, seinen Standpunkt selbst verlassen hat. Wer Gewalt nicht mehr erkennt, hat sich angewöhnt, mit der Angst zu leben, weil ein Kind nur leben will. Weil ein Kind erkennen muss, dass es sich selbst nicht retten kann.

Ein Kind kann sich selbst nicht retten und nicht seine Wunden heilen. Das ist unmöglich. Ein Kind kann ein erlittenes Trauma nicht lösen, wenn ihm nicht geholfen wird in seiner großen Not. Diese Ausweglosigkeit, wenn kein Zeuge diesem Kind bezeugt, dass es Schmerzen hat und Schmerzen haben darf, macht das Kind zu einem Stein, macht mit jedem weiteren Schmerz, den das Kind erleidet und nicht sehen darf, weil den Schmerz doch niemand sehen will, nun zu einer Wand aus lauter Steinen. Diese Wand ist nicht naturgegeben. Meine Eltern haben mir, diesem Kind, diese Wand doch anempfohlen, dass ich nur mehr Steine sehe, wo ich erstmals Schmerzen hatte. Meine Eltern haben mir die Steine anempfohlen, dass ich keine Schmerzen habe, wenn ich mich in ihrer Gegenwart, wie ein Stein empfinde, wenn ich ihre Gegenwart, wie ein Stein ertrage, und nie wieder böse bin. Wenn ich nie mehr Schmerzen habe, sind die Eltern stumm. Wenn ich welche habe, sind sie laut, machen mich mit ihren Reden heiß, dass ich doch gefälligst keine Schmerzen habe, weil es keine für ein Kind noch gibt.

Gibt es Schmerzen für die Kinder?

Haben Kinder Schmerzen?

Wer erinnert sich an keine?

Wie erinnert sich ein Kind an die Schmerzen, die es hatte?

„Böse“ bin ich, wenn ich schreie. Wenn ich stumm bin, bin ich „brav“.

Wer erinnert dieses Kind, an die Schmerzen, die es hatte?

Was erinnert dieses Kind, von den Menschen, die es hatte, in der Nähe, im Besonderen, wenn es seinen Schmerz begreift? Dass es keine Nähe war, die sich meinem Schmerz annäherte, dass es keine Nähe gab, die sich um mich kümmerte. Keine Nähe? Keine Nähe, kann das sein, dass die Nähe alle Schmerzen mindert, dass nur Nähe, eine wenigstens, meine Schmerzen mildern kann? Mildert Schmerz, meine Einsamkeit. Mildern Schläge auch die öden Tage, alle ohne einen Ton? Mildert Vater meinen öden Tag, wenn er mir mit Schlägen kommt? Wenn er endlich wiederkommt? Was passiert, wenn mein Vater stirbt? Wer ersetzt dann seine Schläge, wer erfasst mich in der Leere und bemüht sich noch um mich. Wer fügt mir nur Schmerzen zu, die ich wenigstens noch spüre. Wer berührt mich, wenn ich friere, wenn ich einsam bin. Wer erkundigt sich nach meinen Stunden, Tagen, einerlei. Wer ist da, wenn ich erfriere. Wer ersetzt den Schmerz durch einen anderen?

Meine Mutter ist für mich Repräsentant eines Schmerzes, der ganz ohne Hoffnung ist. Sie erweist sich hier als Stille, die den Schmerz erschafft. Ohne einen Ausweg sein. Ohne Hoffnung auf Gesichter und auf eine Stimme. Sie ist fort, hat mich hier allein gelassen. Dieses nicht da sein, ist die leere Stelle, ohne jedes Zeichen. Ohne eine Schrift, nur in meinen Augen sichtbar, wenn ich mich nicht sehe. Sehe ich mich liegen und mit mir alleine sein, bin ich nicht das Kind. Dieses kleine Kind, hat wie jedes andere, keine Sicht auf seine Welt. Dieses Kind fühlt nur die Leere, die sein Herz erfüllt. Denn ihr nicht da sein, war die feste Größe, die sich niemals änderte. Niemals gab es hier ein Zeichen, das den Raum verändert hätte. Niemals wurde von der Frau, die ich Fremde Frau gern nenne, meiner Mutter, hier ein Zeichen angebracht. Dieser Raum blieb unverändert, nur er kündet von dem Schmerz, den ich in mir hatte, ohne einen Namen.

Dieser Ort ist offen jetzt, ohne eine Tür. Wer den Ort betreten will, ist recht herzlich eingeladen. Dieser Ort, nicht länger heilig, ist auch kein Tabu mehr. Dieser Ort ist meine Kindheit und der vieler anderer.

Dieser Ort, an dem ich mich als Kind so schrecklich fürchtete und nur schreien konnte, um zu überleben, ist jetzt hell erleuchtet. Und mit einem Mal spüre ich, dieses ehemalige Kind ganz deutlich, so erleichtert, dass es keine Angst mehr hat, auch vor diesem leeren Ort nicht mehr.

Jetzt erst kann das Kind einwandfrei und ohne einen Zweifel sehen, dass hier keiner ist, wo du einst allein gewesen bist. Du hast dich längst abgeholt aus der Kälte deines Herzens, welche deine Eltern einst, nur für dich erschaffen hatten.

AM: Wenn ich Ihre Beiträge lese, sehe ich immer ein Kind, das ganz alleine steht und misstrauisch schweigt. Dabei ist anzunehmen, dass Sie nicht immer so sprachlos dastanden. Aber Ihre Seele schwieg, es gab keine Kommunikation.
Das Kind muss Fragen stellen können, es möchte seine Gefühle verstehen, verstehen, weshalb es traurig, wütend oder verängstigt ist. Doch schon die ersten Versuche, sich mitzuteilen, können an Mauern abprallen, wenn die Eltern ihre Gefühle nicht leben und von Ihnen getrennt sind. Statt mit dem Kind nach SEINEN Antworten zu suchen, wehren sie die Fragen des Kindes ab, bestrafen es womöglich oder geben konventionelle Antworten, wie die Religion sie vorschreibt. So bleibt das Kind von unbewussten Eltern mit seinen Fragen allein, fühlt sich schuldig, die Eltern veärgert zu haben, versteht seine Fragen nicht und kann sie im besten Fall wieder finden, wenn es als Erwachsener den Zugang zu seinen Emotionen gefunden hat.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet