Der Ahnenkult

Der Ahnenkult
Sunday 10 May 2009

Sehr geehrte Frau Miller,

zunächst muß ich mich bei Ihnen sehr herzlich für meine verspätete Reaktion entschuldigen. Ich war einige Zeit auswärts und bin erst heute wieder zurückgekommen.

Daß Sie das Ödipus-Stück nicht öffnen konnten, ist natürlich sehr ärgerlich. Ich vermute aber, daß das nur eine momentane Störung beim Server war. Bei mir hat sich die Datei wieder ganz normal geöffnet. Wenn Sie Lust auf den Text haben, können Sie den Link also nochmal probieren, oder Sie nehmen diesen alternativen Link:
http://www.scribd.com/doc/3822189/Konig-Odipus-Eine-Komodie-aus-der-Alten-Zeit

Was den antiken Ödipus betrifft, so lasse ich ihm seine Verhaltensweise, ich lasse auch Sophokles seine. Das waren Menschen, die in einer anderen Welt gelebt haben als ich und ich wage nicht, sie zu richten. Was mich geärgert hat (und immer noch ärgert) ist diese heutige Art, alte Texte kniend zu lesen. So, als wären die Alten bessere und schlauere Menschen gewesen als wir heute. So, als würden die alten Mythen Weisheiten transportieren, die über alle Zeiten und Regionen hinweg ihre unumschränkte Gültigkeit haben.

Was mich wundert, wirklich wundert, ist der Umstand, daß anscheinend keinem aufgefallen ist, daß sich Iokaste bei Sophokles nicht deswegen erhängt, weil sie erkennt, daß sie die Gemahlin ihres leiblichen Sohnes ist. Iokaste, die mehr von der Geschichte weiß als Ödipus, riecht den Braten eher als Ödipus. Sie, die inzwischen weiß, wer er wirklich ist, drängt ihn, nicht weiter nach seiner Herkunft zu forschen. Hätte Ödipus ihr jetzt nachgegeben, wäre für Iokaste alles soweit in Ordnung geblieben. Erst als die Verwandtschaft vor aller Augen offenbar wird, läuft sie weg und erhängt sich. Mit dem Inzest selber wäre sie zurecht gekommen, mit dem Getratsche über den Inzest nicht.

Viele Grüße, WH

AM: Ich teile ganz Ihre Meinung und bin froh, dass Sie sowohl Sofokles als auch Freud überholt haben. Sie schreiben: “Was mich geärgert hat (und immer noch ärgert) ist diese heutige Art, alte Texte kniend zu lesen. So, als wären die Alten bessere und schlauere Menschen gewesen als wir heute. So, als würden die alten Mythen Weisheiten transportieren, die über alle Zeiten und Regionen hinweg ihre unumschränkte Gültigkeit haben.” Ich habe aus der gleichen Motivation und Überlegung mein neuestes Buch “Ahnenkult” nennen wollen, aber entschloss mich für den Titel “Jenseits der Tabus”. Es wird diese Woche als elektronisches Buch auf meiner Website erscheinen, aber nicht im Buchhandel, weil ich nur hier die volle Freiheit habe, auch den hartnäckigsten und daher verhängnisvollsten Tabus nicht zu huldigen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet