sexueller missbrauch unter Kindern

sexueller missbrauch unter Kindern
Thursday 03 April 2008

Liebe Frau Dr. Miller,

Ich bin froh, dass es Menschen wie Sie gibt, die sich meiner wie auch der Kindheit vieler anderer so intensiv widmen. Danke.

Auch ich tue dies, also mich der Kindheit anderer widmen, aber in sehr anderer Weise. Ich lebes in Wales‘ Haupstadt Cardiff und bin in einem Kinderschutzteam als Sozialarbeiter beschaeftigt, d.h., dass ich viele blaue Flecken und viele geweinte und ungeweinte Traenen gesehen und gefuehlt habe. Nicht zuletzt meine eigenen Traenen, die eben durch diese Arbeit oft heftiger flossen als zu Zeiten meiner Psychotherapie. Nicht vor den jungen Menschen, mit denen ich arbeite, flossen die Traenen, aber oft zu Hause, wenn ich den Arbeitstag verdaute. Es war ein langer Weg hierher. Mit 21 wurde ich Erzieher, dann Sozialarbeiter und dieses Studium schloss ich ab mit einer Diplomarbeit unter dem Titel „Selbstverletzendes Verhalten in Jugengendkulturen am Beispiel von Punks“. Fussend auf Sachsse, Kohut und anderen arbeitete ich aus, was Trauma und Pokultur in den spaeten 70ern zusammenfuehrte und zur rasenden Explosion brachte. Wie sie unschwer erraten koennen, war ich in meiner Jugend Punk, und zuvor und waehrenddeseen Schlaegen, zu vielen Umzuegen, Demuetigungen und sexuellem Missbrauch ausgeliefert.
Aber letzteres hat immer eine Frage hinterlassen: Waehrend meiner dreijaehrigen Psychotherapie (tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie) durchlitt ich mit EMDR den vaeterlichen Missbrauch nochmals, auch die Schlaege mit einem Spaghettiloeffel von meiner Mutter.
Ich empfand es als einen kleinen Verrat meiner Therapeutin, dass sie jedoch den Missbrauch meiner damals ca. 12jaehrigen Tante, als ich acht Jahre alt war, nicht als Missbrauch anerkannte. Jene Tante noetigte mich hinter verschlossener Tuer, ihre Genitalien zu beruehren, was in mir sexuelle Lust und Neugierde ebenso wie voellige Ueberforderung, Ekel und Scheu ausloeste – und wohl nicht zuguterletzt eine gehoerige Portion Wut, die jedoch erst in der asexuellen Wut der Punkbewegung, dem ausgetobten Ekel und Hass auf alles Organische und die Hippiebewegung Ausdruck fand.
Als ich ca. 4 – 6 war, ‚inspizierte‘ mein Bruder und eine Schulfreundin meinen Penis waehrend meine Haende und Beine auf dem Ruecken gefesselt waren. Es war abscheulich.

Nun also die Frage: Wie sehen Sie das? Ist das in Ihren Augen Missbrauch? Beruht Missbrauch nicht in jedem Falle auf einer Ausbeutung, die aufgrund eines Machtgefaelles zustande kommt? Mir ist bewusst, dass mein emotionales Erleben nicht von Buchstaben abhaengt, die Worte formen, jedoch transportieren Worte eben Bedeutungen. Und ich spuere, dass mir jene Anerkennung meines Leidens immer wichtig war. Das das Wort Missbrauch meinem Erleben zugeordnet wird. Also frage ich sie als Expertin, sicherlich nicht ohne eine gewisse reflektierte Portion Idealisierung.

Ich fand es erstaunlich, was ich in Ihrem Buch alles wiederfand – meine grossteils bewaeltigte Abhaenngigkeit von Gurus, meinen eigenen Groessenwahn und das Depressive, meine manipulativen Seiten, meine Manipulierbarkeit… all das. Doch in letzter Zeit fuehle ich mich sehr viel freier – nachdem ich eine grosse Szene vor einem tibetischen Lama (buddhistischer Lehrer, nicht das Tier 🙂 ) machte und meiner stimmlich lautstarken Wut freien Lauf liess. Er hatte auf einer Zugreise mir und anderen gezeigt, wie man Kinder mit dem Rosenkranz schlaegt und fuer mich war das das Ende meiner dreijaehrigen buddhistischen Karriere. Als Mensch, der Misshandlung in emotionaler und koerperlicher Hinsicht erfahren hat, war das das wirklich endgueltige Ende einer lange Reise. Und jetzt bin ich froh ueber diese Desillusionierung. Ich esse gesuender, rauche weniger, bin weniger von Frauen und der Bewaeltigung ihres Kindheitsleides – Stichwort Helfersyndrom – abhaengig und lasse eine Beziehung gerade unfanatisch und kritisch, voller Vorsicht angehen. Klingt nicht sehr romantisch, ist im Kontext meines Lebens jedoch als Erfolg anzusehen.

Ueber eine Antwort wuerde ich mich sehr freuen,

Alles Gute fuer Sie und mit vielen freundlichen Gruessen, T. D.

AM: Natürlich besteht ein Machtgefälle zwischen älteren und kleineren Kindern, und natürlich ist das in jedem Falle ein Missbrauch, auch wenn wir nicht vergessen dürfen, dass die älteren Kinder von Ihren Eltern gelernt haben, die Kleineren und Schwächeren zu missbrauchen. Es ist gut, dass Sie Ihre Wahrheit suchen und die Verleugnung früh genug durchschauen wollen. Das wird Ihnen zweifellos viel Leiden in der Zukunft ersparen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet