Zeugen Jehovas

Zeugen Jehovas
Wednesday 15 November 2006

Sehr geehrte Frau Miller,
ich bin sehr an einer aufdeckenden Therapie interessiert. Leider ist es sehr schwer, in erreichbarer Nähe einen geeigneten Therapeuten zu finden. Mir fällt es sehr schwer, an meine tiefsten Empfindungen heran zu kommen. Ich habe das Gefühl, ständig blockiert und nicht recht voran zu kommen. Das geht zum Teil so weit, dass ich mich gar nichts mehr traue, mich nirgends mehr wirklich durchsetzen kann.
Ein kleine wenig möchte ich Ihnen zu meiner Lebensgeschichte schreiben. Ich bin als fünftes von sechs Kinder geboren. Mein Vater trat den Zeugen Jehovas bei, als ich gerade mal drei Jahre alt war. Wir wurden als Kinder oft geschlagen. Es gab immer wieder sogar richtige Prügelexzesse! Ich höre noch heute die Geräusche, die meine Mutter machte, während sie mit der Hand, dem Kochlöffel, einem Schuh oder was sonst sie auch immer gerade zur Hand hatte auf uns einschlug. Es sind furchtbare und grausame Erinnerungen, die mich immer wieder überfallen, sobald ich an meine Kindheit denke. Dazu kommt noch die ständige Einsamkeit als Außenseiter bedingt durch meine Zugehörigkeit zur Sekte.
Meine Kindheit ist geprägt von Gewalt, Unverständnis, Mißtrauen, Streit, Einsamkeit und Gefühlskälte.
Heute bin ich selbst Mutter dreier Kinder. Es fällt mir schwer, ihnen emotional zu begegnen. Ich kann meine Liebe für sie nicht zeigen. Manchmal habe ich sogar Probleme damit, sie selbst zu spüren. Ich gebe wir wirklich große Mühe! Aber diese Mühe kostet mich so wahnsinnig viel Kraft. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalten kann.
Seit ca. drei Jahren weiß ich von einem sexuellen Mißbrauch, der in meiner Familie stattgefunden haben soll. Mein Vater leugnet den direkten sexuellen Verkehr, gibt aber zu, dass er „ die Finger nicht bei sich behalten konnte“. Ich selbst habe meinen Vater noch nicht konfrontiert. Mir fehlt die Kraft dazu. Erinnerungen, die hin und wieder auftauchen, lassen jedoch den Schluß zu, dass sich mein Vater des sexuellen Mißbrauch schuldig gemacht hat. Einige meiner „Gewohnheiten“ lassen den selben Schluß zu: Früher konnte ich mich nicht einmal in meiner eigenen Wohnung auf die Couch legen, ohne mich zuzudecken. Noch heute fühle ich mich unter der Decke wohler. Ich schließe die Toiletten- und Badezimmertür IMMER ab, selbst wenn ich ganz allein in der Wohnung bin. Ich habe das dringende Bedürfnis, bevor ich mich zum Duschen ausziehe, das Schlüsselloch abzuhängen.
Ich habe eine Erinnerung daran, dass unser Bruder mir und der vom Mißbrauch betroffenen Schwester einmal fünfzig Pfennige anbot, damit eine von uns ihn oral befriedigen würde. Ich war damals etwa 7 oder 8 Jahre alt.
Ich weiß, dass ich als Kind immer mit meinen Barbie Puppen Vergewaltigungsszenen spielte.
Ich habe Erinnerungen daran, dass ich meinen Kater des öfteren würgte, bis er in Todesangst geriet. Diese Erinnerung kam mir erst kürzlich wieder, als ich auf einer Internetseite einen Erfahrungsbericht las.
Was gibt es wohl noch für Erinnerungen, die ich ausblende? Ich weiß von einer Erinnerung, die mit dem Mißbrauch zu tun hat, die ich von meinem 20. bis zu meinem 35. Lebensjahr ausgeblendet habe!

Ich habe mal, als Anhaltspunkte zu meiner jetzigen Situation, ein paar Absätze aus einer Hompage für ehemalige Sektenmitglieder kopiert und dazu meine eigene Situation geschildert:
—Perspektivlosigkeit. Ehemalige wissen nach ihrem Austritt nicht, was sie in “dieser Welt” wollen und sollen. Es müssen oft mühsam neue, diesmal eigene Zukunftsperspektiven erarbeitet werden
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Ich habe dieses Gefühl der Perspektivenlosigkeit noch immer! Warum ist es mir nicht möglich, Entscheidungen für meine Zukunft zu treffen, die ich auch auf lange Sicht ohne Bedenken, Zweifel und Reue tragen kann?

—Mißtrauen gegenüber ihrer sozialen Umgebung, gegen organisierte Religion (wenn sie einem religiösen Kult angehörten) und Organisationen generell. Dies beinhaltet aber auch Mißtrauen gegenüber ihren eigenen Fähigkeiten wahrzunehmen, ob und wann sie erneut manipuliert werden. Nachdem sie mehr über Manipulationstechniken und psychologische Modelle erfahren haben; können sie wieder klarer differenzieren und ihrer inneren Stimme vertrauen lernen.
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Mal abgesehen von meinen Kindern und dem Ehemann, bin ich nach wie vor ein einsamer Mensch. Es ist mir nicht gelungen, neue, langjährige Freundschaften aufzubauen. Ich leide darunter, keine Freunde zu haben, kann mich aber gleichzeitig auch nicht wirklich für die Menschen um mich herum öffnen. Wenn ich allein bin, habe ich ein wahnsinnig intensives Verlangen Kontakten, bin ich jedoch mit anderen zusammen, ziehe ich mich innerlich zurück, noch bevor das Zusammentreffen beendet ist. Ich kann nicht aus mir heraus und kann andere nicht an mich heran lassen! Das ist eine fürchterliche Situation!

—Isolationsempfindungen. Ehemalige haben oft das Gefühle, daß keiner verstehen kann, was sie durchgemacht haben. Dies bezieht sich besonders auf ihre Familien.
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Ich spreche mit meinem Mann über meine Gefühle, ich bin froh darüber, dass er mich anhört, glaube auch daran, dass es ihm im Umgang mit mir hilft, wenn er weiß, was ich denke und fühle. Aber echtes Verständnis, dass glaube ich nicht erwarten zu können. Wen sonst habe ich aber, von dem ich Verständnis erwarten kann? In letzter Instanz fühle ich mich allein gelassen. Ich spüre, dass ich aus diesem Grund meine wahre Verzweiflung, Einsamkeit, Enttäuschung und Wut nicht wirklich heraus lassen kann.

—Unfähigkeit eigene Entscheidungen zu treffen. Der Verlust der Selbstbestimmung in derartigen Organisationen führt oft zu einer Entscheidungsunfähigkeit. Dieses Unvermögen ist ein Beleg für die Abhängigkeit und Unselbständigkeit, die im Kult gefördert wurde.
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Ich habe schon seit Monaten gespürt, dass ich so wie bisher nicht weiterleben kann, hatte jedoch nicht die Kraft dazu, eine Veränderung herbei zuführen. Ich weiss, dass mir diese Kraft auch jetzt noch fehlt. Ich weiss immer nur, was NICHT geht, doch was gehen könnte, dass erschließt sich mir einfach nicht. Ich glaube, ich habe tatsächlich Angst davor, eine Entscheidung zu treffen! Ich habe Angst vor allem Neuen, was auf mich zukommen könnte. Vor allem aber habe ich Angst davor, dass doch alles wieder so werden wird, wie es heute ist. Ich strebe das Neue an und habe am Ende doch nur das Altbekannte. Mir werden neue Gesichter begegnen, es werden neue Stimmen zu hören sein. Aber was bei mir ankommt, das ist doch immer wieder nur das selbe! Ich werde mich wieder fühlen, wie ich mich heute fühle. Wieder eine neue Enttäuschung! Diese Erwartung lähmt mich! Ich weiß aber nicht, wie ich sie los werden soll. Da nützt alles Bücherlesen nichts! Alles Wissen bleibt nur in meinem Kopf1 Es macht mich bald irre! Der ständige Betrieb in meinem Kopf. Ich wünschte, ich könnte das mal abschalten!

—Schwaches Selbstvertrauen, geringe Selbstachtung. Das resultiert aus ihren Kulterfahrungen, in denen sie als nutzlos, schuldig und schwach dargestellt
wurden. Sie trauen sich kaum zu, eine eigene Meinung zu äußern. Dies ist die Auswirkung des gezielten manipulativen Einsatzes von Lob und Tadel im Kult.
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Ich habe mich als Kind und Jugendliche IMMER schuldig gefühlt! Ich fürchte, dieses Gefühl von Schuld hat sich mir wie eine Tätowierung eingebrannt. Ich laufe mit dieser Tätowierung herum, ohne sie zu bemerken. Nur ein Blick in den Spiegel (Selbstreflexion) macht mich auf dieses Brandmal aufmerksam. Wenn es mir schlecht geht, meide ich einfach den Spiegel, und tue so, als sei alles in Ordnung. Geht es mir gut, schaue ich mir die Tätowierung näher an, mache mir Gedanken darüber, wie ich sie los werden könnte. Bisher jedoch ohne nennenswertes Ergebnis.

-Abhängigkeit und die Gefahr einer “Abhängigkeitsverlagerung”. Oft versuchen Ehemalige die Leidensphase nach einem Kultaustritt abzukürzen, indem sie sich z.B. vorschnell in eine Partnerschaft begeben, oder sich einer neuen Religionsgemeinschaft anschließen.
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Ich habe nie selbstbestimmt gelebt! Meinen Mann habe ich geheiratet, da war ich gerade mal drei Jahre aus der Sekte draußen. Ganz ohne Aufarbeitung meiner Vergangenheit habe ich mich auf diese Beziehung eingelassen. Sie hat gehalten! Ich könnte mir ein Leben ohne meinen Mann absolut nicht vorstellen. Ich habe ihm viel zu verdanken. Er ist der erste Mensch in meinem Leben, der mich halbwegs vorbehaltlos liebt. Der erste Mensch überhaupt, dem ich intensive Gefühle entgegenbringen kann. Aber ich fürchte, von ihm auch in großem Maße abhängig zu sein. Ich glaube zu wissen, dass ich ein Leben ohne ihn nicht leben könnte. Es bereitet mir echte Angst, zu spüren, wie sehr ich vom Gelingen dieser Beziehung abhängig bin. Ich fürchte sogar, dass ich in den letzten Jahren gewisse Entwicklungen nur genommen/nicht genommen habe, weil ich diese Beziehung nicht gefährden wollte.

—Wut und Ärger gegenüber der Gruppe und/oder gegenüber dem Kultführer. Nicht selten richten sie diese Wut auch gegen sich selbst.
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Ich verspüre tatsächlich eine wahnsinnige Wut tief in mir. Manchmal kommt sie an die Oberfläche. Dann beginne ich, scheinbar ohne Grund, plötzlich zu weinen. Ich fühle mich dieser Wut hilflos aufgeliefert. Ich habe kein direktes Ziel für diese Wut. Weiß aber, dass sie aus meiner Vergangenheit her rührt. Sie ist nicht nur aus meiner Zugehörigkeit aus der Sekte erwachsen. Sie scheint mir auch in hohem Maße daher zu kommen, dass ich nie eine echte und richtige Beziehung zu meinen Eltern hatte. Dieses Gefühl, nicht gewollt zu sein, trifft mich immer wieder ganz hart! Ich habe schon mal versucht, Meditationen zu machen. Es ist mir nicht möglich! Hier vielleicht ein Beispiel aus der Praxis. Ich habe beruflich ein Seminar für Ernährungsberatung besucht. Wir waren eine Gruppe von ca. 15 Leuten. Die Seminarleiterin bittet uns nach der Mittagspause mit ihr nach draußen zu gehen. Es sollen Entspannungsübungen gemacht werden. Wir stehen alle im Kreis, sollen die Augen schließen. Wir werden aufgefordert, an etwas ganz unangenehmes zu denken, und diese
unangenehmen Gedanken in ein Loch im Sand vor unseren Füßen einzugraben. Ich komme gar nicht dazu, dass Loch zu Graben. Es war mir so fürchterlich peinlich! Die Aufforderung, an etwas negatives zu denken, hat alle Schleusen bei mir geöffnet. Ich musste mich von der Gruppe entfernen. Den ganzen Nachmittag lang habe ich mich nicht mehr wirklich beruhigt!

—Spirituelle und philosophische Fragen/Probleme. Die Weltanschauung und die Werte des jeweiligen Kultes haben sich als nicht tragfähig erwiesen. Eine neue, eigene Wertewelt muß gefunden werden.
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Ich habe keine neue, tragfähige Wertewelt! Ich heule ständig in der Kirche beim Gottesdienst! Nachrichten setzen mir so zu, dass ich es aufgegeben habe, mir welche anzuschauen. Ich denke oft, hier auf dieser Welt einfach fehl am Platz zu sein. Ich verspüre im Hinblick auf meine ablaufende Lebenszeit mehr Erleichterung als Bedauern! Es kam mir schon oft der Gedanke, dass der Tod eine Erlösung sein muss. Ich fühle mich oft in meinem Körper wie in einem Gefängnis. Das heißt nicht, dass ich mein Hier und Heute nicht auch hin und wieder genießen kann! Es gibt noch einiges, worüber ich mich in Zukunft freuen werde. Da bin ich mir sicher. Aber meist war es so, dass die Freude am Leben zu sein, die Sehnsucht nach Ruhe und nach einem Ende von Kummer und Leid nicht wirklich aufwiegt. ICH FINDE ES SCHWER, AM LEBEN ZU SEIN! Und das wiederum finde ich ganz furchtbar. Ich möchte doch leben! Aber ich möchte leichter leben!

Ich bin derzeit in einer ziemlich verzweifelten Situation. Ich muss mich jetzt entscheiden, wie es beruflich weiter gehen soll, fühle mich aber absolut nicht in der Lage dazu. Die Kinder (13, 14, 16) fordern mich ohne Ende! Gerade eben komme ich von einem Gespräch aus der Schule. Es scheint in unserer Familie nichts mehr wirklich richtig zu funktionieren! Ich fühle mich so winzig klein vor einem Berg von Problemen. Ich kann mich auf nichts mehr richtig konzentrieren! Ich fühle mich morgens schon, als hätte ich einen langen Arbeitstag hinter mir. Wo soll das noch hinführen?
Ich müsste noch mal eine Therapie machen. Selbst dazu fehlt mir die Kraft! Wie sollte ich auch einen geeigneten Therapeuten finden? Vor jeder Aktion, egal wo ich mich hinwende, stehen so viele Fragezeichen, dass ich kaum noch bereit bin, überhaupt einen Schritt zu gehen.

Ich habe so viel gelernt, seit ich Ihre Bücher gelesen habe! Ich habe aber das Gefühl, dass mit dem Gelernten meine Probleme nicht kleiner werden. Im Gegenteil! Ich kann den (Problem)Berg gar nicht so schnell hoch laufen, wie er vor meinen Augen größer und größer wird. Werde ich den Gipfel je erreichen?

Ich würde mich freuen, von Ihnen ein paar Anregungen zu erhalten.

Mit feundlichen Grüßen, S. M.

AM: Sie schreiben: „Mir fällt es sehr schwer, an meine tiefsten Empfindungen heran zu kommen. Ich habe das Gefühl, ständig blockiert und nicht recht voran zu kommen. Das geht zum Teil so weit, dass ich mich gar nichts mehr traue, mich nirgends mehr wirklich durchsetzen kann.“ Damit teilen Sie Ihr Schicksal mit unendlich vielen Menschen, die ähnliches erlebten, besonders, da Sie in einer Sekte aufgewachsen sind. Was Sie von diesen Menschen aber unterscheidet, sind die klaren Erinnerungen, die Sie haben, und das Bewusstsein des immensen, schrecklichen Unrechts, das Ihnen widerfahren ist. Nun geht es darum, Ihre Revolte gegen dieses Unrecht, gegen all die Verbrechen, die an dem kleinen hilflosen und unschuldigen Mädchen verübt wurden, ohne dass sie jemand davor beschützt hätte, zu spüren, sich die Empörung zu erlauben und Menschen zu finden, die diese Empörung mit Ihnen teilen werden. Psychiater tun dies gewöhnlich nicht, sie verschreiben Medikamente, um Sie zu beruhigen, und das wirkt kontraproduktiv. Sie sollten sich nicht beruhigen, wenn Ihnen das Ausmaß des Grauens voll bewusst wird; ruhig sind Sie lange genug gewesen, weil Sie keine andere Wahl hatten. Erst jetzt können Sie anfangen, auf Ihren Körper zu hören und seine Rechte zu verteidigen. Sie können ihm Ihre Liebe geben und Ihr Verständnis für seinen Zorn zeigen, der absolut begreiflich ist.
Ihre “negativen” Gedanken sollen Sie nicht im Sand begraben (welch eine sinnlose “Aufgabe”!!!), nein, Sie sollen sie Ernstnehmen, sich diese anhören, diese Gedanken kommen doch aus IHREM Innern und erzählen IHRE GESCHICHTE. Wie wollen Sie denn leben und am Leben Spaß haben, wenn Sie akzeptieren, dass man Sie auslöschen wollte? Jetzt sind Sie daran, gegen dieses Auslöschen zu rebellieren, zuerst wohl mit der Müdigkeit. Das ist der Anfang. Und wenn Sie zu einem Therapeuten wollen, dann lesen Sie zuerst die FAQ Liste auf meiner Seite “Artikel”. Ich wünsche Ihnen viel Mut und hoffe, dass Sie, trotz Ihrer begreiflichen Ängste als Kind eines Sektenterrors, die Kraft finden, sich gegen Unsinn und Verbrechen zu wehren.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet