bzgl. dieses Leserbriefes: “Eltern missbrauchen mit voller Absicht!”

bzgl. dieses Leserbriefes: “Eltern missbrauchen mit voller Absicht!”
Tuesday 06 November 2007

Sehr geehrte Alice Miller,
ich habe gerade diesen Leserbrief gelesen und möchte meine Gedanken dazu mitteilen.
Meiner Ansicht nach ist es wohl tatsächlich einfacher, die Wut und Empörung zu spüren, wenn man denkt, der/die TäterIn hat die Taten mit voller Absicht, aus purer Boshaftigkeit, dem Willen zum Bösen getan, also in dem Sinne, obwohl er/sie hätte sich zum Guten bzw des Unterlassens der bösen Taten entscheiden können, so wie der/die LeserIn es schreibt… Mir ist bei diesem Leserbrief aufgefallen, daß der/die LeserIn damit argumentiert, daß die TäterInnen, als Beispiel war Hitler oder Stalin genannt, zufrieden und nicht unglücklich wirkten, auf den Fotos zB… dazu möchte ich anmerken, daß jd, der als “Ventil” das Erlittene an andere Unschuldige weitergibt, in welcher Form auch immer, jedenfalls weiterhin verletzend und grausam, dabei sehr wohl zufrieden wirken kann, daß das also kein Grund sein muß für die BEWUßTE Entscheidung, wobei auch eine Entscheidung zum Guten hätte stattfinden können… sondern daß es vordergründig ja auch erstmal tatsächlich befriedigen kann, wenn jd sich nicht anders zu helfen weiß, als sein grausam Erlebtes in der Kindheit zu verdrängen/verleugnen/amnesieren und somit weiterzugeben an Unschuldige… dies ist ja auch eine Entscheidung in dem Sinne, daß man ja schon vordergründig weiß, im Großen und Ganzen, was Gut und was Böse ist, aber unbewußt weiß man es eben nicht, solange man noch sein Erleben als Kind verdrängt/verleugnet/amnesiert und seine Eltern zB idealisiert oder verharmlost… unbewußt in dem Sinne, daß das Kind in einem es nicht weiß.. welches einen auch leitet so wie auch der Erwachsene in einem, welcher schon zwischen Gut und Böse unterscheiden kann (intellektuell zB)… dieses Kind wird einen nunmal solange leiten, die “Macht” übernehmen über die eigene Entscheidungen und Handlungen, Gefühle, Gedanken ect.. solange es nicht angeschaut und beachtet wird… so erkläre ich es mir jedenfalls und gebe Ihnen vollkommen recht, in allem, was Sie schreiben.. und ich finde den Vorwurf an Sie unberechtigt, Sie würden damit TäterInnen “entschuldigen”, wobei ja gerade Sie immer wieder dazu anhalten, die Wut und Empörung zuzulassen und eben nicht sich zu zwingen, zu verzeihen, auch nicht den Eltern zB, wobei ja die Gesellschaft im Fall Eltern so extrem moralisch ist und das Gebot “Ehre Deine Eltern” (egal was sie Dir antun) so aufrecht erhält aus lauter Angst aus dem verschüchterten Kind heraus…. Sie wollen nur ERKLÄREN und ERKENNEN, wie es dazu kommt, daß Menschen Grausamkeiten tun… weil Sie nicht glauben, daß Menschen schon grausam auf die Welt kommen, sprich, daß in einem Säugling Grausamkeiten angelegt sind, was ich eben so an Ihnen schätze, da gerade diese Einstellung zum Menschen so unglaublich befreiend ist und Mut macht, Hoffnung macht, das Leben aus einer positiven Sicht sehen läßt. Und ich finde es gerade gut, daß Sie aber dennoch nicht, wie zB die ganzen verblendeten Esoteriker oa, dafür die ja auch natürliche und angemessene Wut und Empörung auf Menschen, die einen grausam behandeln, unterdrücken wollen, sondern im Gegenteil dazu anhalten, diese endlich zuzulassen, um frei zu werden, denn nur durch das Spürendürfen dieser ist eine innere Befreiung möglich, die einem erlaubt, sich BEWUßT zu entscheiden, das grausam erlittene nicht weiterzugeben bzw einem ja den Antrieb dazu nimmt, so daß man gar nicht mehr weitergeben will, was man erlitten hat, weil man eben wütend darauf sein kann und es somit als schlechtes sehen/beurteilen kann, auch unbewußt aus dem Kind das man war heraus. Dies hat bei Hitler/Stalin nicht stattgefunden, denn diese Männer lebten aus dem Kind heraus, das nicht beachtet wurde und somit die Macht, die freie Bahn hatte, weiterzumachen, was es gelernt hat… andere Möglichkeit ist es auch, krank zu werden, wenn man verdrängt, oder beides, böse und krank… (ich merke, daß ich immer noch verdrängen muß, denn sonst wäre ich nicht noch immer mit Symptomen/Krankheit belastet/behindert bzw würde nicht noch immer zB mich meinem Freund gegenüber unlogisch böse des öfteren verhalten). Ich denke, es ist unglaublich schwer, sich gegen den inneren Antrieb, sich so zu verhalten, wie einst zB die Eltern sich verhielten anzugehen… es ist vielleicht möglich, aber wohl mit der Nebenwirkung, krank zu werden.. und erst wenn das traumatisierte Kind in einem einen “wissenden Zeugen” hat, ist eine Befreiung davon möglich, löst sich der Antrieb von selbst auf, wobei die Macht der erlittene Traumata bzw Bezugspersonen/Erzieher/Innen(Eltern zB) in einem unheimlich stark und zäh sein kann meiner Meinung nach.
Sie sind jedenfalls mit Sicherheit niemand, die Hitler zb “entschuldigt”, sondern gerade sie sind ja jd, die für die angemessene Wut gegenüber TäternInnen sind, und vergessen dabei aber eben nicht, dennoch auch die Entstehungsgründe für Grausamkeiten unter Menschen zu erklären/erkennen zu versuchen, was ich sehr hilfreich finde, nach wie vor, um eben selbst nicht in der Schleife/Falle bleiben zu müssen… Ihre Erklärungen sind ja eben nicht dazu da, seine TäterInnen zu entschuldigen, sondern dafür da, sich selbst zu erkennen, durchleuchten, um selbst nicht TäterIn zu werden (oder bleiben).
Der/Die LeserIn sieht einen Widerspruch in Ihren Schriften, in dem Sinne, daß Sie einerseits auf die Wut den TäterInnen gegenüber anregen und andererseits das TäterInnenverhalten erklären wollen. Ich sehe darin nicht einen Widerspruch, sondern kann für mich beides gleichzeitig verarbeiten, wobei ich früher auch mal damit Probleme hatte, aber wie geschrieben, nun differenzieren kann: die Wut ist natürlich und angemessen und Verzeihen kann Verdrängung/Verharmlosung bedeuten – dennoch ist es wichtig, um den Kreislauf zu beenden, die Entstehung zu verstehen, und zwar für SICH SELBST und ALLGEMEIN, nicht für die TäterInnen, die einen traumatisiert haben, um diesen verzeihen zu können, denn jeder von uns, gerade die wir selbst traumatisiert wurden, jeder sollte bestrebt sein, den Vorgang für sich selbst, an sich selbst zu durchleuchten und begreifen, damit der Gewaltkreislauf, der so ja wirklich unnötig ist, zu durchbrechen ist. Es gibt schon genug Grausamkeiten von Natur aus auf dieser Erde, da müssen wir Menschen nicht noch zusätzliche schaffen oder aufrechterhalten, wobei wir diese auch auflösen können.
Ihre K.S.

AM: Vielen Dank für Ihren Brief und Ihre wichtigen Reflexionen. Ich bin überrascht, dass jemand ein so tiefes Verständnis hat für das, was ich geschrieben habe. Wenn Therapeuten es ebenfalls wagen würden, sich dieses Verständnis für die einfachsten logischen Zusammenhänge zu erlauben, könnten sie sich vielleicht leichter von der Schwarzen Pädagogik befreien, die die Heilung blockiert. Sie praktizieren sie unbewusst und ungewollt wie automatisch, weil sie in der Ausbildung kaum Gelegenheit hatten, sie zu durchschauen. Diesen Schritt haben Sie offenbar ganz alleine geleistet. Dazu möchte ich Ihnen gratulieren.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet