Der empathische Zeuge

Der empathische Zeuge
Sunday 19 October 2008

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Liebe Frau Miller,

Ich habe immer gedacht, ich wäre etwas Besonderes, etwas Besseres. Ich habe gedacht, ich müsste etwas Besonderes sein. Besonders gut und brav und nett für meine Eltern, die mir am Anfang meines Lebens Geister waren. Gottvater und die Heilige. Ich glaubte fest daran. Für mich gab es keine Möglichkeit, wenn ich allein war, daran nicht zu glauben. Ein Kind, das allein gelassen wird, hat keinen Zweifel zur Verfügung.

Das gemeine und hinterhältige ist, dass meine Eltern nie von diesem Standpunkt abgerückt sind. Sie haben sich nie bei mir als Kind für ihr Tun entschuldigt, sie hatten keinerlei Zweifel daran. Solange ich das nicht sehen konnte, war auch mein Hass auf sie von einem schlechten Gewissen begleitet. Erst als ich das ganze Ausmaß ihrer Lügen erkannt hatte, erkannte ich, dass ich hassen konnte. Von ganzem Herzen ohne ein schlechtes Gefühl dabei zu haben. Ich glaube, dass einzig mein Hass, den ich als Kind meinen Eltern gegenüber hatte, mich vor dem tot krank werden bewahrt hat. Hass ist nicht böse. Er ist nur ein Gefühl. Sie haben völlig recht. Er war für mich als kleines Kind das einzige das mir gehörte, das mir noch blieb. Jahrzehnte später musste ich diesen Hass ausgraben, nach und nach, um schließlich zu erkennen, wie zerstörerisch Gewalt und Lügen gegen mich als Kind und meine Phantasie gewesen sind. Meine Mutter drohte mir als kleines Kind mit dem schwarzen Mann, der kommt, mich holt und mit sich nimmt, wenn ich nicht sofort einschlafen würde. Sie beherrschte meinen Schlaf. Ich hatte immer Angst vor meiner Traumwelt, bis mir auffiel, wie sehr ich sie beherrschen wollte. Durch symbolisches Auflösen und analysieren. Ich sah Symbole und spürte nichts dabei; außer einem intellektuellen Vergnügen. Ich erzog meine Träume und ließ ihnen keine Ruhe, solange sie mir nicht gehorchen wollten. Ich tat das mit der gleichen Unnachgiebigkeit, mit der ich als Kind erzogen worden bin. Symbole schonen diejenigen, die Gewalt ausüben. Ich hatte als Kind schreckliche Angst vor meinem Vater und meiner Mutter. Ich glaube, dass Freuds Traumdeutung darauf abzielt, den Traum zu beherrschen, um so Macht über die Bilder zu bekommen. Aber der Tyrann ist nicht die Wahrheit, sondern der Lügner mit seinen Lügen. Der Körper weiß das.

Ich habe einen Zeugen gehabt, als Kind, als ich von einer Mauer gefallen bin und nicht weinen konnte und meine Tränen schluckte. Da kam ein Mann, der hat mich angesehen und mich gefragt, ob ich mir weh getan hätte. Das hat mich vorher nie jemand gefragt. Weder meine Eltern noch ein anderer. Ich glaube, dass dieser Mann damals mein Leben gerettet hat.

Mit herzlichen Grüßen

H.R.

AM: Ja, der Mann hat mit der Frage „Hast du dir wehgetan?“ Ihre Seele gerettet. Niemand sonst hat je nach Ihrem Befinden gefragt. So wachsen Diktatoren und Massenmörder auf, sie haben NIE erfahren, dass jemand sich nach Ihren Schmerzen erkundigt, dass jemand wissen oder gar verstehen will, wie es ihnen geht.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet