Die Wut darf nicht sein

Die Wut darf nicht sein
Tuesday 23 January 2007

Sehr geehrte Frau Miller,

ich habe mich schon mehrfach an Sie um Rat gewandt, den Sie mir auch gegeben haben – vielen vielen Dank! Mittlerweile mache ich enorme Fortschritte, meine Gefühle überfluten mich geradezu, ich kann endlich ein bisschen meinen Körper spüren, auch wenn ich ihn immer wieder ignoriere. Ich habe vor über anderthalb Jahren den Kontakt zu meiner Mutter abgebrochen, und es ist so, daß erst seit diesem Abbruch langsame eine echte Befreiung meines Selbst begonnen hat. Aber dieser Weg ist so schwer. Ich empfinde Gefühle grenzenloser Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit – und ich weiß, daß dies die realen Gefühle meiner Kindheit sind. Ich habe mein ganzes Leben um die Liebe meiner Mutter gekämpft, aber es war alles umsonst. Meine Mutter kann bloß schön von Liebe reden, aber sie verhält sich ganz anders. Sie hat mir nie körperliche Nähe geschenkt, geschweige denn emotionale Zuwendung. Immer wieder habe ich mich in Frauen verliebt, die meine Gefühle nicht erwidern konnten, die mich zwar irgendwie mochten, aber letzten Endes meine Nähe nicht ertragen haben. Jetzt hatte ich mich wieder in eine Frau verliebt (obwohl ich bisher nur mit Männern zusammen war), die meine Gefühle zu erwidern schien. Doch nun ist das Gleiche, was mir immer wieder passiert, geschehen. Sie ist plötzlich ganz kalt, erträgt meine Nähe nicht und stößt mich weg. Ich ahne, daß ich die Geschichte meines Kampfes um meine Mutter reinszeniere und es ist so schmerzhaft! Ich suche mir diese Frauen nicht freiwillig aus, es passiert einfach immer wieder. Ich hatte so gehofft, daß ich dank der voranschreitenden Aufarbeitung meiner emotionalen Geschichte mit meiner Mutter jetzt weiter wäre, und dann traf es mich wie ein Blitz, daß auch diese Frau mich wieder ablehnt. Ich habe noch nie etwas anderes kennen gelernt, und ich kann gar nicht glauben, daß es auch mal gut werden kann. Würden Sie sagen, daß es gar nicht darum geht, ob man wieder an ähnliche Menschen gerät, sondern ob man selbst die Kraft hat, sich dann anders zu verhalten? Nach meinem alten Muster müßte ich jetzt dieser Frau ewig hinterherrennen und verzweifelt hoffen, daß sie mich doch liebt. Ich spüre langsam meine Wut, daß ich so etwas nicht mehr will, daß ich nicht Menschen hinterherlaufen möchte, die mich nicht lieben. Aber wenn ich mich mit meiner Ohnmacht konfrontiere, habe ich das Gefühl, zu sterben. Glauben Sie, daß es wirklich so ist, daß ich noch immer nicht alle meine wahren Gefühle für meine Mutter verstanden habe, und immer noch versuche, alles zu bagatellisieren und immer noch unbewußt den Fehler bei mir suche? Und daß ich damit meine böse Mutter schütze? Und es ist so schrecklich, die Wahrheit auszuhalten, daß man als Kind seinen Eltern ausgeliefert ist, und sie mit einem machen können, was sie wollen, und man sieht sich selbst als schuldig an. In einem Ihrer Bücher haben Sie geschrieben, daß man die Schuldigen bestrafen müsse, auch damit sie ahnen können, was ihnen selbst angetan wurde. Ich glaube, damit haben Sie recht. Die Verwirrung hat wirklich erst ein Ende, wenn man seinen echten Gefühlen folgen kann. Und wie gesagt, ich spüre langsam meine Wut auf meine Mutter, aber ich kann sie dann doch nicht wirklich zulassen, da kommt sofort Angst und das Bewußtsein, daß diese Wut nicht sein darf. Ich darf auch dieser Frau, die mich jetzt so behandelt, das nicht einfach so durchgehen lassen, dann verliere ich wieder meine Selbstachtung. Aber es fällt mir so schwer, ihr jetzt nicht hinterherzurennen, ich brauche meine ganze neue Kraft, um das nicht zu tun.

Liebe Frau Miller, ich danke Ihnen für Ihre wahren Bücher!

Alles Gute, A. K.

AM: Sie schreiben: „Die Verwirrung hat wirklich erst ein Ende, wenn man seinen echten Gefühlen folgen kann. Und wie gesagt, ich spüre langsam meine Wut auf meine Mutter, aber ich kann sie dann doch nicht wirklich zulassen, da kommt sofort Angst und das Bewußtsein, daß diese Wut nicht sein darf.“
Mit diesen Zeilen haben Sie sich alle Fragen beantwortet, die Sie mir hier stellen. Diese Wut DARF sein, sie hat sicher ihre Gründe, und Sie können sich nur helfen, wenn Sie sie zulassen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet