Deine Feinde lieben?

Deine Feinde lieben?
Saturday 23 May 2009

Sehr geehrte Frau Dr. Miller,

seit längerer Zeit drängt sich mir die Frage auf, warum es so schwer nachzuvollziehen ist – in den Tätern auch das ehemalige Kind zu sehen. Ja – sogar Bedauern und auch MItgefühl für diese Kinder zu empfinden.

Als ich die Reise zu meiner eigenen Kindheit angetreten bin – bin ich auch unweigerlich an den Punkt gekommen -“Verstehen” zu wollen – warum mich meine Eltern derart bestialisch behandelten. Ich machte mir die Mühe auch in der Kindheit meiner verstorbenen Eltern nachzuforschen – ich muss Ihnen nicht mitteilen, was ich herausgefunden habe.

Seit ich das in Erfahrung gebracht habe, ist da ein Gefühl , welches mir zu Anfang Angst machte. Ich empfand Mitleid für diese beiden Kindern – die meine Eltern auch einmal gewesen sind. Aber im selben Atemzug empfand ich eine unglaubliche Wut auf sie – weil sie so zerstörerisch als Erwachsene mit ihren Kindern umgegangen sind. Da haben zwei große Gefühle in mir getobt – die berechtigte Wut – und Mitleid – aber nicht mit diesen erwachsenen Tätern – sondern den wehrlosen Kinder – die sie gewesen sind.

Ich versuchte das Gefühl des Mitleides für diese Kinder zu verdrängen – es erschien mir irgendwie absurd – ich, die von diesen beiden Erwachsenen malträtiert wurde – empfand Mitleid für sie als ich erfuhr was sie als Kinder erlebt hatten.
Wie kann ich Mitleid empfinden? Es erschien mir verrückt solche Gefühle zu haben – aber nicht falsch. Es machte mir auch Angst – weil ich dachte, ich empfinde nun für meine Peiniger Mitleid. Dem ist aber nicht so – Für meine Eltern empfinde ich kein MItleid – nicht die Spur – im Gegenteil – ich hoffe, sie zahlen irgendwo im Nirwana für das, was sie mir angetan haben.

Ich las in Ihrem Buch “dein gerettetes Leben” folgendes:

“Ich hatte immer Mitleid mit Kindern, aber niemals mit einem erwachsenen Tyrannen. In diesem Punkt wurde ich manchmal mißverstanden, insbesondere als ich die Kindheit von A.Hitler beschrieb……..”

Es war mir ein Trost das zu lesen. Und war der Überzeugung, dass das viele Menschen verstehen konnten – insbesondere diejenigen, die Ihre Bücher gelesen hatten – weit gefehlt.

In meinen Ohren klingt immer noch das empörte Aufschreien einiger Menschen, als ich das laut äusserte – für diese Menschen verdränge ich zugunsten der Täter mein eigenes Elend als Kind – verrate mein KInd etc…. was ich aber nicht tue.

Warum fällt es so schwer in diesen Menschen auch das zu sehen – was sie einmal waren? Wehrlose Kinder – die ebenso wie ich – wie Millionen anderer Kinder gequält – gedemütigt, gefoltert und vieles mehr wurden.

Mit besten Grüßen

S.J.

P.S.

Was die “Schwierigkeiten” des Grünen Forums anbelangt – so freue ich mich sehr, dass die Forenleitung Fehler erkannt hat -wie auch ich sie letztendlich erkannt habe – meine eigenen Fehler und meine Erwartungshaltung. Ich sehe darin aber eine große Chance -nicht nur für Liza & Benedikt.

Viele sind auch der festen Überzeugung wenn sie Bücher von Ihnen gelesen haben, verstehen sie plötzlich – was jedoch nicht immer der Fall ist und ziehen sich “beleidigt” zurück wenn man ihre Meinung nicht teilt.

Ich würde mich freuen, wenn Liza & Benedikt sich für die weitere Führung dieses Forums entscheiden könnten.

AM: Ich fühle mich etwas verwirrt durch Ihren Brief, weil Sie sich manchmal widersprechen. Vielleicht kommt dies davon, dass Sie das, was Sie wirklich fühlen, mit dem verwechseln, was Sie MEINEN, dass Sie fühlen sollten. Seien Sie froh, dass Sie kein Mitleid fühlen mit Menschen, die Sie “bestialisch” behandelt haben, denn das Mitleid würde Ihren Zorn blockieren, der ja Ihre Rettung ist. Was Sie schreiben, ist eher selten, die meisten Menschen haben ihre Eltern ihr Leben lang bemitleidet und sind selten frei, um ihre Auflehnung gegen die Peiniger zuzulassen. Diese Blockierung kommt aus edr Erziehung, die den Zorn gegen die Eltern verbietet. Wenn Sie Englisch verstehen, lesen Sie den Brief vom G. unter dem Titel “Love your enemy” (vor einigen Tagen geschrieben) und meine Antwort darauf.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet