Der Körper kennt die JUNGEN Eltern

Der Körper kennt die JUNGEN Eltern
Wednesday 03 June 2009

Sehr geehrte Frau Miller,

mein erster Therapeut hat mich vor achtzehn Jahren – ich war gerade vierzig – auf Sie aufmerksam gemacht. Seither beschäftige ich mich mit Ihrer Arbeit und Ihrem Wirken. Ich bin überzeugt von Ihrer Einsicht, dass nur die konkrete, tabufreie Benennung des dem einstigen Kind geschehenen Leides und eine angemessene emotionale Reaktion darauf eine therapeutische, auflösende Wirkung haben kann. Adäquate Reaktionen für mich sind wohl vor allem die Empfindung und Äußerung von Schmerz, Empörung, Wut, Zorn, Verzweiflung, Panik, Angst.

Leider kam ich bei keinem meiner beiden – in vieler Hinsicht engagierten und guten – Therapeuten an den Punkt, wo ich mein Leiden als Kind zu benennen und zu fühlen gewagt hätte. Der erste ließ mich zwar rasch erkennen, dass meine Meinung, ich hätte eine normale, glückliche Kindheit gehabt, nicht so ganz stimmen konnte. Doch unser weiterer therapeutischer Weg führte zwar durch viele interessante Straßen, an die entscheidende Stelle gelangten wir nicht: wo ich gewagt hätte, das Entsetzen des Kindes, das ich war, anzuerkennen, zu empfinden und auszudrücken.

Neunzehn Jahre sind vergangen, die Depressionen werden langsam wieder lebensgefährlich, die seit der Pubertät in mir wütende Migräne ist dominierend wie eh und je. Die Kraft, meinen Alltag irgendwie zu balancieren (ich funktioniere durchaus tüchtig im Beruf) wird immer schwächer.

Ich weiß, wenn ich nicht bald den Eispanzer, die Betonmauer um mein ganzes Selbst aufbreche, die Tränen, die Wut, die Schreie laut werden lassen kann, fühlen darf, was ich ganz früh nicht fühlen durfte , gehe ich zugrunde.

Ich suche den wissenden Zeugen, der mir beisteht. Vielleicht finde ich ihn einmal. Aber auch – Sie weisen immer wieder darauf hin – die Suche nach dem Geschehenen für mich selbst, die Hinwendung meines erwachsenen Ichs zu dem gequälten Kind, das ich war, ist möglich und hilfreich. Nur – ich kann mich an fast nichts Konkretes erinnern, ein Außenstehender würde das wenige Erinnerte Bagatellen nennen. Aber ich weiß, dass ich gelitten habe und dass mich die Folgen dieser Kindheit zu einem seelischen Krüppel gemacht haben.

Zuviel Einleitung für meine eigentliche Frage. Ich kann seit der Pubertät bis heute, mein ganzes Leben hindurch, keine Wut, keinen echten Schmerz, keinen Zorn empfinden. „Zielloses“ Produzieren von Wut und Trauer, durch welche Psycho-„Techniken“ auch immer – Sie haben es oft geschrieben – führt nicht zum Ziel. Emotionale Entladungen um der Entladung willen ebenso wenig. Die Wahrheit einzig, die wahrhaftige, gerechtfertigte Reaktion auf dem Kind wirklich Geschehenes – wie immer um Jahrzehnte verspätet – ist sinnvoll und lösend.

Meine Eltern sind beide weit über achtzig und – ich mache mir jetzt nichts vor, glauben Sie mir – sind gut, im Sinne einer sich im praktischen Alltag bewährenden humanistischen Lebensführung, die ich nur bewundern kann. Sie kommt aus einer christlich-protestantischen Quelle, realisiert sich jedoch ohne Dogmatik und Missionierungswillen. Meine Mutter, als ich sie im Verlauf meiner ersten Therapie mit vielen Fragen und Infragestellungen konfrontierte, hat viel nachgedacht und mich um Verzeihung gebeten für die Fehler, die sie gemacht habe.

Ich sehe meine Eltern, die in einer anderen Stadt wohnen, nicht oft. Aber ich wünsche ihnen das Beste. Als Erwachsene ist unser Verhältnis vernünftig, von der Seite meiner Mutter her liebevoll, von der Seite meines Vaters her praktisch helfend und rücksichtsvoll. Von meiner Seite her befangen und weitgehend sprachlos, vom tiefen, verzweifelten Bewusstsein bestimmt, dass sie mich nie verstehen werden.

All das ändert nichts daran, dass ich als Kind in einer emotionalen Hölle gelebt habe, die mich bis heute zum Eisblock macht. Ich will diesem Kind endlich das Gefühl geben, dass es verstanden wird, dass seine Wahrnehmungen und sein Gefühl richtig sind, dass sein Leiden, seine Einsamkeit, seine Sehnsucht, seine Verzweiflung verstanden werden, gefühlt und ausgedrückt werden dürfen.

Aber ich will nicht die gutmütigen alten Leute, die meine Eltern heute sind, beschuldigen.

Den Zwiespalt haben, in anderen Nuancen, schon viele Ihrer Briefschreiber benannt. Ich werde nicht aufhören, nach einem mich begleitenden Zeugen zu suchen, der Gefahr bewusst, die es bedeuten kann, aus dem Freundeskreis jemanden zu bitten, der selbst der Therapie bedarf. (Der Leserbrief „Der Schmerz“ vom 1.1.09 beschreibt das).

Doch solange ich diesen Menschen nicht finde, muss ich mich selbst um das Kind kümmern, dessen noch immer nicht ausdrückbare Qualen mich nach achtundfünfzig Jahren nun endgültig zu strangulieren beginnen.

Ist es ausgeschlossen, den alten Eltern heute Gerechtigkeit und Achtung widerfahren zu lassen, und gleichzeitig dem Kind in mir zu seiner Stimme und zu seinem Gefühl zu verhelfen, indem ich die Eltern meiner Kindheit in der Wahrheit des Kindes wahrzunehmen wage?

Die Angst zu fühlen, erstickt mich. Wenn ich den Schrei nicht schreien kann, die Tränen nicht weinen kann, die in mir sind, verdorre ich. Ich habe alles Fühlen fünfzig Jahre lang mühsam delegiert an die Kunst, wo andere stellvertretend für mich empfunden haben. Es geht nicht mehr.

Ich danke Ihnen für Ihr Zuhören und für Ihre große Arbeit.

AM: Sie fragen: „Ist es ausgeschlossen, den alten Eltern heute Gerechtigkeit und Achtung widerfahren zu lassen, und gleichzeitig dem Kind in mir zu seiner Stimme und zu seinem Gefühl zu verhelfen, indem ich die Eltern meiner Kindheit in der Wahrheit des Kindes wahrzunehmen wage?“ Die Antwort für Sie können nur Sie selber finden. Ihre Frage zeigt, dass Sie GENAU verstanden haben, was Ihnen helfen könnte: den Gefühlen des kleinen Kindes in Ihnen zu folgen, das nur Ihre JUNGEN Eltern kannte. Diese Gefühle sind in Ihrem Körper eingesperrt, und der erwachsene Teil blockiert ihren Ausdruck durch „Respekt“ vor den alten Eltern (es ist in Wirklichkeit die Angst vor Ihrer rieseigen Wut). Der Körper kennt keine Moral, am wenigsten die verlogene, er kennt nur die Wahrheit des Erlebten: den Schmerz, die Wut, den Zorn über so viel Unsinn der Erziehung. Nehmen sie seine Gefühle ernst, hören Sie seiner Geschichte zu.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet