Aus der Tradition aussteigen
Sunday 05 March 2006
Guten Tag,
auf dieser Möglichkeit Ihnen zu “sprechen” bin ich durch eine Googlesuche gekommen.
Ihr Buch habe ich auf Empfehlung meiner magersüchtigen Tochter gelesen – sie ist inzwischen 33 Jahre alt und hat unter dieser Krankheit seit 10 Jahren gelitten – ich habe es schon geahnt, aber wir haben nichts gesagt. Durch eine Aussage meiner Mutter, in dem sie zugab, dass sie eine uneheliches Kind ist (eine Schande in der Zeit als sie klein war), ein Geheimnis, die sie mit sich über die Jahren getragen hat weil sie ihre Mutter in Schutz gehalten hat, hat meine Tochter ihre „Geheimnis“ an mein Mann und ich gelüftet.
Ich habe mich in Ihrem Buch gefunden – ich denke meine Mutter, wenn sie deutsch lesen konnte (wir kommen aus Groß Britannien), sich auch darin finden würde – und gewiss meine Großmutter, die von ihrem Vater im getrunkener Zustand, mit einem schwere Ledergürtel geschlagen worden war, sich auch.
Was ich hier zum Ausdruck bringen möchte – die Lebensgeschichten von unseren Vorfahren folgen uns – anscheinend können wir es nicht vermeiden böse Dinge an unsere Kinder weiterzugeben. Ich habe immer Versucht eine gute Mutter meiner Kinder zu sein (wir haben auch ein Sohn), sie habe ich überhaupt nicht geschlagen, wie ich geschlagen war; ich habe gedacht ich hätte sie immer zugehört, ich habe versucht immer für sie da zu sein aber nicht zu viel – aber weil wir so oft umgezogen sind, und weil mein Mann sehr ordentlich ist – haben wir doch vieles falsch gemacht.
Ihr Buch ist aus der Sicht des leidenden Kind geschrieben. Es wäre interessant ein Buch aus der Sicht der beschuldigte Mutter oder des beschuldigten Vater zu lesen, die wiederum auch leidende Kinder waren. Wie können wir aus diesem Teufelskreis kommen? Wie können junge Eltern das Richtige mit ihren Kindern machen?
Meine Tochter und ich können sehr gut am Telefon und per Email kommunizieren, aber sie meidet lange Aufenthalte bei uns – sonst bricht ihre Haut aus und sie bekommt kein Brocken runter. Sie tut mir so leid – ich liebe sie und bin sehr betroffen, dass ich an ihre Leid dazu beigetragen habe.
Vielen Dank für Ihr Buch – es hat uns beide weitergebracht. Meine Tochter möchte mit mir reden, und ich habe sehr vieles über mich nachgedacht und mein Leben für mich auch geändert. Wir können alles was schon passiert ist nicht rückgängig machen, aber wir können weiter gehen. Ich kann meine Mutter nie vergeben für die Schlägerei, für die grausamer Stunden ich in mein Zimmer allein mit „der liebe Gott wird dich bestrafen. Du wirst mich eines Tages umbringen. Ich liebe Dich nicht mehr“ – und nun finde ich es in Ordnung, dass ich sie nie vergeben will. Sie ist jetzt alt und zerbrechlich, lebt im Heim in Groß Britannien, ich besucht sie und schau nach dem Ordnung bei ihr, sie hat auch ihre Vergangenheit – sie vergöttert ihr Eltern, aber was wirklich in ihre Kindheit passiert ist, hat sie verdrängt. Ich kann sie nicht vergeben, aber ich kann sie verstehen.
Wir drehen uns im Kreise rum.
Mit freundlichen Grüßen
J. S.
AM: Nein, wir müssen uns nicht im Kreise drehen, sobald wir aufhören, unsere Eltern, die ja gar nicht daran interessiert sind, sich zu verstehen, unsererseits verstehen zu wollen. Ihre Mutter vergöttert ihren Vater, der sie mit dem Gurt erbarmungslos geschlagen hat. Was ist da zu verstehen? Und warum sollten Sie das können? Weil Sie in dieser Tradition aufgewachsen sind? Aber Sie können doch daraus aussteigen, nachdem Sie mein Buch so gut verstanden haben. Die “Revolte” kann man auch englisch lesen, unter dem Titel “The Body Never Lies”, Norton 2005, NY. Auf jeden Fall ist es Zeit für Sie, sich selbst verstehen zu wollen und die Gefühle des geschlagenen Kindes in Ihnen zu entdecken. Versuchen Sie, meinen Artikel über die Schuldgefühle auf dieser Webseite zu lesen und auch meine Antwort von gestern an Frau PL, die von ihrer Analyse erzählt. Ihr Brief zeigt viel Mut zur Wahrheit, daher stehen Ihnen noch viele Wege offen, um das zu reparieren, was Sie möchten und was noch reparabel ist.