Verwirrende Deutungen

Verwirrende Deutungen
Tuesday 09 February 2010

Liebe Frau Miller,

ich habe Ihnen, bezüglich meiner Mutter, zuletzt Ende Dezember geschrieben. Sie haben direkt am nächsten Tag eine Antwort zurückgeschrieben. Vielen Dank dafür! Hierin meinten Sie, dass ich ja bereits alles durchschaut hätte und nun bereit wäre mich von der verhängnisvollen Bindung an meine Mutter zu lösen. Ich habe aus dem Bauch heraus noch einmal versucht, einen geeigneten Therapeuten zu finden (obwohl ich schon nicht mehr daran glauben kann, jemals einen zu finden). Ich war jetzt zwei Mal bei einer Frau, die tiefenpsychologisch arbeitet. Im Erstgespräch habe ich ihr viel von den erlittenen Mißhandlungen durch Vater und Mutter erzählt. Woraufhin sie meinte:”Wieviel Kraft sie aufwenden mußten um zu überleben….” Das hörte sich ja schon ganz gut an. Im zweiten Gespräch dann erzählte ich ihr, wie sehr meine Mutter mich mit ihren Eheproblemen belastet hat und ebenso auch meinen jüngsten Bruder. Und das, obwohl sie sich bis heute nie von unserem Vater getrennt hat. Daraufhin meinte sie, dass man solch ein Verhalten meiner Mutter in der französischen Psychoanalyse als “geniessen” bezeichnen würde und es auch auf so eine Art sadomasochistische Geschichte hindeutet oder hinausläuft. Das kann ich irgendwo noch nachvollziehen, da nicht meine Mutter die Hauptlast tragen mußte sondern ich. Aber als sie dann meinte, dass mein jüngster Bruder und auch ich es wohl geniessen würden als der Bessere (wohl besser als der Vater) dazustehen, ging mir das erheblich gegen den Strich. Wie passt das zusammen, wenn sie mir im ersten Gespräch sagt, wieviel Kraft ich gebraucht hätte um zu überleben und dann spricht sie von “geniessen”? Ich habe diese Gespräche mit meiner Mutter nie genossen – sie waren eine Qual für mich. Und ich bin mir absolut sicher, dass es bei meinem Bruder genauso war und ist. Meine Mutter hat auf diese Weise nur versucht, sich der unangenehmen Begleiterscheinungen ihrer Ehe zu entledigen. Ich habe mir diese Dinge früher immer angehört, in der Hoffnung, meiner Mutter würden irgendwann die Augen aufgehen und sie würde sich endlich trennen. Aber sie dachte gar nicht daran! Aber wie kann man so ein mißbräuchliches Verhalten mir gegenüber als “Genuss” für mich auslegen???? So, als wollte ich meine Mutter als Geliebte gewinnen. Irgendwie erinnert mich das Ganze an die übliche Schonung meiner Eltern, die ich immer wieder erlebt habe in “Therapien”.

Ich habe nächste Woche wieder einen Termin bei der Therapeutin. Aber ich schwanke, ob ich überhaupt noch mal hingehen soll, ich weiß es nicht. Ich habe mich in der Vergangenheit häufig auf solche Dinge eingelassen, die mir sehr geschadet haben. Ich habe schon in der ersten Stunde gesagt, dass ich eine Begleitung such für die Aufarbeitung meiner Muttergeschichte. Ich empfinde den Kommentar der Therapeutin nicht als Begleitung sondern eher als zusätzliche Belastung. Ich kann mich nicht erinnern jemals von ihnen gelesen zu haben, dass es ein “Genuss” für einen Sohn ist, wenn er von der Mutter als Eheberater und Mülleimer mißbraucht wird, damit die Mutter weiterhin an einer zerstörerischen Beziehung auf Kosten des Sohnes festhalten kann. Handelt es sich hier vielleicht wieder einmal um nichts Anderes als um eine psychoanalytische Deutung, die mir eine gewisse Mitschuld zuschiebt und damit meine Gefühle unterdrückt und meine Mutter schont? Ich befürchte es. Auf dem Klingelschild ihres Mannes steht übrigens u.a. “Psychoanalyse”. Was meinen Sie dazu Frau Miller? Ich habe ihr auch gesagt, dass ich all Ihre Bücher gelesen habe. Kommentiert hat sie das nicht.

Herzliche Grüße, MA

AM: Wenn Sie mich so direkt fragen, dann würde ich Ihnen raten, diese Frau nicht mehr zu besuchen, denn Sie verstehen viel mehr als sie. Sie würde sie nur weiter psychoanalytisch verwirren und Sie dafür bezahlen lassen. Dann müssten Sie für den Missbrauch bezahlen, wie bei Ihrer Mutter. Es ist so tragisch, dass man das so gut Bekannte nicht in seiner Gefährlichkeit erkennt. Ihre negativen Gefühle haben Ihnen immerhin einen Hinweis gegeben und eine neue Abhängigkeit von einem weiteren Mutterersatz erspart. Es gäbe aber auch die Möglichkeit, dass Sie diese (oder eine ähnlich obscur “ausgebildete” ) Frau noch einmal aufsuchen und ihr die Freud’sche Irreführung vom “Genießen des Missbrauchs” aufzeigen würden. Damit erhielten Sie vielleicht die wichtige Chance, die offenbar noch sehr starke Angst vor Ihrer Mutter abzubauen. Die Auswahl ist groß, denn fast alle Analytiker schützen die Eltern (vor allem ihre eigenen) und erzählen ihren Klienten, dass diese genossen hätten, vergewaltigt zu werden. So verstärken sie deren Schuldgefühle, statt ihnen zu zeigen, dass ein Kind in seiner Einsamkeit, seinem Hunger nach Nähe und Berührung unter Umständen lieber jede Gewalt und jeden Betrug akzeptiert als die totale Leere und Verlassenheit.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet