Verleugnung der Wahrheit

Verleugnung der Wahrheit
Friday 03 March 2006

Liebe Frau Miller!

Ich schreibe Ihnen, um Ihnen meine Erfahrungen bezüglich der heute immer noch gelehrten Theorien in der Psychologie und Psychotherapie schildern. Ich bin Psychologiestudentin im letzen Semester (Universität Wien) und mache zusätzlich eine Ausbildung zur Psychotherapeutin. Als ich mit beidem anfing, war ich naiv in dem Glauben, daß heute keiner mehr die Wichtigkeit realer Kindheitserlebnisse, insbesondere im Zusammenhang mit psychischen Krankheiten, leugnen kann. Tja, Studium her, aus der Traum. Als Ursache für psychische Erkrankungen wird die “Genetik” gepriesen, der Patient ist “schuld” und die Verhaltenstherapie sowie Psychopharmaka das beste und tollste in Sachen Behandlung. Ich habe mich gefragt, wie kann ein Mensch je gesunden, wenn seine Behandlung im “Unterdrücken” der Symptome (durch Medikamente) oder dessen “abtrainieren” (durch Therapie) besteht? Antworten bekomme ich keine.

Am schlimmsten haben mich die Vorlesungen in “Klinischer Psychologie des Kindes- und Jugendalters” getroffen, wo ich das Skript kaum lernen konnte, weil ich immer nur “So ein Schwachsinn!” schreien wollte. Bei dem entsprechenden Professor ist sogar SUIZID genetisch mitbedingt. Gewalt (der Erzehungspersonen) wird bei ihm durch ein “ungünstiges Verhalten der Kinder und deren schwierigen Charakter” ausgelöst, ohne je zu hinterfragen, wie es zu diesem kommt. Es wurde doziert, daß “ohne restriktivem Einfluß alle Jugendlichen egoistisch, hedonistisch aggressiv etc. sind”. Bei Essstörungen wird, außer fast schon “Zwangsernährung” geraten, “die Position der Eltern zu stärken und eine Koalition mit ihnen herbeizuführen”. In Punkto sexueller Mißbrauch wurde bei den Tätern “keine frühreren Gewalt- oder Verführungserlebnisse festgestellt”, auch wird deren Zusammenhang mit psychischen Krankheiten in einem einzigen Nebensatz am Rande erwähnt. Diese Liste läßt sich beliebig fortführen und ändert sich auch bei allen anderen Fächern nicht.

In der Psychotherapieausbildung ist es nicht viel anders. Wir bekommen irgendwelche Theorien, Trieb- oder sonstige, als Tatsachen vorgesetzt, doch über die REALE Lebenssituation unserer Patienten in der Kindheit wird kein Wort verloren. Auch hier sind z. B. Halluzinationen und Wahnvorstellungen etwas komplett körperliches/genetisches und vor allem sinnloses, statt in den Bildern und Gedanken Hinweise auf Erlebnisse der Patienten zu suchen. Der Schutz der Eltern scheint immer noch überall eingebleut zu werden.

Doch das für mich schlimmste ist die Gutgläubigkeit/Blindheit(?), mit der meine KommilitonInnen dies alles aufnehmen. Bei Fallgeschichten und Praktika, wo ich ganz deutlich sehe, was den PatientInnen zugefügt wurde, was sie auch u. U. selber berichten, werden artig solche Theorien doziert, und auch den PatientInnen eingeredet, was diesen aber nicht hilft sondern alles eher verschlimmert. Es mag anmaßend klingen, aber ich fühle mich manchmal wie die einzige Sehende unter lauter Blinden (blind sein wollenden?). Drei Jahre habe ich ehrenamtlich eine Selbsthilfegruppe für Angstpatienten und Depressive geleitet, bei allen Teilnehmern (über die Zeit bis zu 80 od. mehr) haben sich in Gesprächen sehr änliche Muster von Erziehung und Erlebnissen in der Kindheit gezeigt, doch darauf angesprochen, ob dies jemals in ihren Therapien besprochen wurde, wurde dies allesamt verneint (was für mich auch im Zusammenhang damit steht, daß sie nach oft sehr vielen Jahren und Therapien immer noch unter ihren Symptomen leiden).

Mir kommt es vor, als würde eine neue Generation von PsychologInnen, PsychotherpautInnen und PsychiaterInnen zum nicht merken buchstäblich “heranerzogen” (denn so fühlt sich die Ausbildung oft an), was mich traurig macht, w! enn ich an all die PatientInnen denke, die von diesen später einmal behandelt werden. Ihre Bücher waren für mich sehr wichtig, denn ich habe oft gedacht, ich bin die Einzige, die es so sieht, und Sie haben das, was ich oft nur gesehen und gespürt habe, in Worte verpackt.

Ich weiß leider nicht, wo ich lernen kann, eine den PatientInnen später wirklich hilfreiche Psychologin/Psychotherapeutin zu werden, da ich mit fast allen Theorien wenig anfangen kann, so werde ich mich in Zukunft auf Ihre Bücher und mein Gespür verlassen. An erster Stelle stehen die PatientInnen und der Glaube an ihre Erzählungen.

Ich danke Ihnen vielmals für Ihren großen Beitrag zu meinem Verständnis psychisch kranker Menschen, MfG, C. C.

AM: Was Sie beschreiben, ist katastrophal, aber es scheint mir vollkommen zutreffend, denn es deckt sich auch mit meinen eigenen Erfahrungen mit Zeitungen und anderen Medien. Ihre Situation ist wirklich traurig, aber ich meine, sie sei doch besser als die Ihrer Kommilitoninnen, die blind bleiben wollen. Denn diese Blindheit werden sie später mit Symptomen bezahlen müssen, die sie mit Medikamenten und Verhaltenstherapie zu heilen versuchen werden. Zum Glück haben Sie Ihre Augen offen behalten können, trotz dieser totalen Verleugnung der Wahrheit; aber Sie fühlen sich einsam, begreiflicherweise. Haben Sie schon versucht, im Forum “ourchildhood.de” zu lesen oder zu schreiben? Da finden Sie Menschen, die die Situation und die Emotionen des Kindes, das sie waren, zu verstehen suchen und so die Angst vor dieser Wahrheit mit der Zeit verlieren. Je besser man sich in der eigenen Kindheit auskennt, umso besser versteht man die anderen. Doch das Gerede über die Gene ist eine Flucht vor der eigenen Geschichte, die zu dem verhängnisvollen Schwachsinn führt, den Sie so genau schildern. Ich wünsche Ihnen gute Begleiter auf Ihrem Weg.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet