Eine seltene Leistung

Eine seltene Leistung
Thursday 29 October 2009

Liebe Alice Miller,

der Leserbrief “Tragischer Mangel oder Schuld” und Ihre Antwort darauf haben mich sehr berührt.
Ich schrieb Ihnen vor längerem zu meiner Kindheit und meinen Erfahrungen mit spirituellen Therapieformen,
für die ich lange sehr empfänglich war, vor allem für das Aufstellen.
Ich war deswegen so empfänglich weil ich die Unfähigkeit meiner Eltern zu Lieben besser verstand als meinen Schmerz,
auch ich hatte zu diesem Zeitpunkt all Ihre Bücher gelesen und eine wirklich Kindertreue Begleiterin beim Durchackern meiner Kindheitstraumen gehabt,
und doch war ich froh….froh eine Weise zu finden wo ich meine Eltern wieder verstehen und daher mit einem liebenden Blick auf sie
und deren Kindheit mit all ihren Entbehrungen etc. sehen konnte.
Es war fast ein Gefühl der Erlösung, das ich dabei hatte.

Heute weiß ich, dass genau das mir zeigte wie schlimm es für mich als Kind war, wie entsetzlich und aussichtslos schlimm,
ich erkannte es dadurch, dass ich trotz all meines Wissens und all meiner gelebten Gefühle wieder bereit war meine Eltern zu verstehen.

Als Kind war ich ausgeliefert, und überzeugt davon dass ich, so wie sich meine “geliebten” Eltern verhielten,
eine Ausgeburt des Teufels sein musste, die bei der Geburt fast die eigene Mutter tötete.
Das hörte ich oft, und gepaart mit Schlägen und Verachtung ging das tief.

Spuren dieses Monsterselbstbildes entdecke ich heute noch.

Und genau so war es als ich die große Lüge des Aufstellens erkannte. Das Kind wird ignoriert, ausgelassen, übergangen im Besten Falle..

Es war schwer das in der ganzen Tiefe zu begreifen, weil ich gleichzeitig meine fast nicht überlebbare Situation als Kind in ihrem Ausmaß erinnerte.

Heute bin ich glücklich darüber und stolz auf mein unwahrscheinlich kräftiges Kind.

Wenn ich heute lese wie ein Kind die Eltern versteht, die ja auch nicht geliebt wurden…..derne Eltern ja auch nicht………etc…. bis zurück in die Steinzeit ..
dann wünsche ich dieser Person allen Mut ein bischen tiefer zu blicken.

Es ist eine Wahrheit dass kaum einer geliebt wurde in seiner Kindheit und es ist
eine Wahrheit, dass JEDE/R Erwachsene JEDEN Moment aufstehn kann und beginnen hinzuschauen….
JEDER Vater JEDE Mutter
Es gibt keine ENT – SCHULD – IGUNG…… es gäbe ein Verantwortung übernehmen, ein Durchgehen der eigenen Geschichte…..
und vielleicht irgendwann ein wirklich von Herzen kommmendes Bedauern, ein die Dinge beim Namen nennen in tiefem Verständnis für das Erlittene des Kindes.

Es ist unglaublich zu sehen was die Menschen tun und wieviel Geld sie ausgeben für die Hoffnung dass die Eltern es doch noch lieb haben….
und genau das wird unter anderem in den oft sehr anrührenden Schlußszenen von Aufstellungen vorgegaukelt.

Es ist wirklich ekelerregend. Vielleicht sollte ich meine Erfahrungen mit dem Aufstellen über Jahre, ich machte sogar eine Ausbildung in München,
detailliert zur Aufklärung aus der Perspektive meines Kindes schreiben.

Die Sehnsucht, die das erste Aufstellen auslöste, das Gefühl von “angekommen” sein…..

Es ist grausam was da geschieht, grausam für jedes Kind, und sehr schwer zu durchschauen weil einem gesagt wird es geht um das Kind.
Weil Hellinger sogar die Bücher von Ihnen gut heißt, natürlich mit Einwänden….

Liebe Alice Miller, ich bin so froh um Ihre Website, um diese Möglichkeit des Austausches, regelmäßig lese ich die Leserpost.

Danke…. für ALLES, von Herzen

AM: Danke für Ihren sehr wichtigen Brief. Es geschieht selten, dass eine Insiderin den Mangel an Konsequenzen und Koherenz in ihrer Gruppe so klar durchschaut. Ich halte das für eine große Leistung. Wahrscheinlich geht es wirklich immer wieder darum, sich zu der Wahrheit durchzuringen und die Illusionen aufzugeben, obwohl uns das so schwer fällt – vor allem aus der Position des Kindes, das immer noch auf die Liebe wartet, die ihm zugestanden HAT. Und wenn man als Erwachsene aufhört, auf diese Liebe zu warten, bekommt man plötzlich Mut, das, was man gefunden hat, angstfrei zu sagen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet