Religion, Christentum, Ostern, Kindesopfer
Monday 16 April 2007
Sehr geehrte Alice Miller,
in einigen Ihrer Bücher und anderen Publikationen schreiben Sie über das Schweigen der Kirche zum Thema Gewalt gegen Kinder.
Diese Ignoranz ist sozusagen systemimmanent… Besonders deutlich wurde mir dies beim vergangenen Osterfest:
Die Wochenzeitung DIE ZEIT veröffentlichte in ihrer Osterausgabe als Vorabdruck ein Kapitel aus dem neuen Buch von Papst Benedikt XVI. In diesem Kapitel stellt der Papst das Gleichnis vom „Verlorenen Sohn“ als zentrales und bedeutendstes Gleichnis des Neuen Testamentes vor. Wieder einmal wird hier auf die „Gnade des Herrn und Vaters“ verwiesen, der sein Kind „trotz“ dessen „Schuld“ erneut bei sich aufnimmt; der verlorene Sohn ist ja zurückgekehrt in die Obhut des Vaters und lebt fürderhin nach dessen Vorbild und Geboten.
Dieses Gleichnis denunziert von Anfang an den Sohn, der anders leben will als der Vater, denn dann kann er ja nur in Verderbnis und Verbrechen abgleiten… Er kriecht zu Kreuze und unterwirft sich schließlich dem Vater.
Es gibt da noch einen zweiten Sohn im Gleichnis, der immer brav zuhause geblieben und der jetzt murrt und unzufrieden ist, daß sein Bruder gleichsam „belohnt“ wird. Diesem zweiten, braven Sohn wird der Zurückgekehrte sozusagen als Vorbild gepriesen; denn jener habe nach schweren Erfahrungen eingesehen, daß der Vater Recht habe – erst über den „Umweg“ durch Elend, Schuld und Scham sei er zur Einsicht gekommen. Der andere habe sich ja stets vorbildlich verhalten…
Dieses erbärmliche Gleichnis von der völligen Zerstörung des eigenen Kindes nun, stellt der Papst als zentrale Geschichte des Neuen Testamentes dar. „Wir Kinder“ sind per se schuldig und haben stets die Neigung ins „Verbrecherische“, in Sünde abzugleiten – doch der „Vater“ verzeiht uns, wenn wir uns ihm wieder zuwenden.
Noch eine zweite Beobachtung/Überlegung möchte ich hinzusetzen…
…schon als Kind fand ich im Religionsunterricht die Leidensgeschichte Christi unerträglich und widerlich…Gott habe seinen Sohn sterben lassen, damit wir Menschen erlöst werden, hieß es dazu, das sei doch ein Grund zur Freude – und deshalb feiere man Ostern.
Der Kern des christlichen Glaubens besteht in der Vernichtung des eigenen Kindes, ja noch mehr: es gibt die Szene im Garten Gethsemane, in der Christus vor Angst zitternd, darum bittet, „der Kelch möge doch an ihm vorübergehen“ – aber er setzt auch hinzu, daß er sich dem Willen des Vaters fügen werde… Er muß sich also nicht nur töten lassen, er muß auch noch die Zustimmung dazu geben…
Noch einmal – dies ist die zentrale Botschaft des Christentums: erst durch die Vernichtung des Kindes und dessen Zustimmung zur Vernichtung und Tötung kann die Menschheit erlöst werden…
Lebensfeindlicher geht es ja nicht – kein Wunder also, daß die christliche Religion zur strukturellen Gewalt in unseren Gesellschaften beiträgt (ganz zu schweigen von der ohnehin gewaltsamen Geschichte des Christentums).
Auch andere Religionen benötigen zur ihrer Rechtfertigung stets das Märtyrertum, einen Gewaltakt im Kern, der die Gläubigen zwingt, diese Gewalt wenigstens rituell immer wieder zu reproduzieren. Götter sind nichts anderes als Väter oder/und Mütter, die ihre Gläubigen wie ihre Kinder ausbeuten und quälen und von ihnen auch noch verlangen sich in ihren Willen zu schicken.
So ist von der Vertretern dieser Religionen auch keine wirkliche Hilfe im Kampf gegen Kindesmißbrauch und Unterdrückung zu erwarten.
Mit herzlichen Grüßen und entsprechendem Zorn WB
AM: Ich danke Ihnen für Ihr Schreiben im Zorn und stimme Ihnen vollkommen zu. Leider hört man solche Stimmen sehr selten, denn der Zorn ist ja auch verboten. Dabei ist der unterdrückte, berechtigte Zorn die Brutstätte aller möglichen Krankheiten. Weder Ärzte noch die meisten Therapeuten wollen etwas davon wissen. Natürlich ist die Kreuzigung ein Beispiel der Opferung des Sohnes, auch das alte Testament gibt Beispiele dieser Mentalität: Gehorsam den Eltern gegenüber wird in allen Religionen als höchste Tugend gepriesen. Wohin also mit dem unterdrückten Zorn? Gegen Andersgläubige (Feinde) oder zur Produktion der Krankheiten?