Krankheit als Weg?

Krankheit als Weg?
Sunday 27 August 2006

Liebe Alice Miller,
ich kenne Ihre Bücher seit den 80 er Jahren und meinte sie auch zu verstehen. Die Psychotherapie hat mir den Einblick in meine “glückliche Kindheit” gegeben. Heute muss ich sagen, dass ich alles verstanden habe, leider nur nicht gefühlt. Ich kenne Ihr Buch, die Revolte des Körpers und möchte Ihnen mitteilen, dass mein Körper dieses Jahr mit Krebs sein STOPP gesetzt hat.
Der rote Faden meiner Kindheit, teils aus Erzählungen, ich war “trocken” mit 9 Monaten, ich musste alles Essen, ich spuckte natürlich aus, und es wurde solange zurückgestopft und der Mund zugehalten, bis ich es geschluckt habe. Mit 3 Jahren traten Verdauungsprobleme auf und Rizinusoel, was Ekel in mir hervorrief, musste ich nehmen, mit dem drohenden Begleitsatz: “Nimmst Du es nicht, musst Du sterben.” Bis zu meinem 3 Lebensjahr, kann ich mich an Schläge erinnern (es gab 3 Gesetze meiner Mutter 1. Du darfst nicht lügen 2. Du darfst nicht klauen 3. Du musst mir immer alles sagen), so setzten die Schläge ein und meine Wut und mein Protest folgten, meine Mutter konnte mich damit nicht brechen. Somit kam der Liebesentzug, meine Mutter hat mich nicht gesehen, gehört und nicht mit mir gesprochen. Das machte mir Angst, Todesangst, und ich kann mich daran erinnern, sie in meiner Fantasie umgebracht zu haben, um keine Wut zu empfinden. Aber erschwerend kam hinzu, dass sie sagte, Schau mir in die Augen und ich weiß, ob Du mich belügst. Momentan fühle ich ganz zart, dieses kleine Mädchen, dass so viel Angst hatte durchsichtig zu sein, keinen Platz hatte, die Wut und die Feindseeligkeit zu verstecken. Dieser Schmerz kommt langsam an die Oberfläche. Das Gefühl nie geliebt worden zu sein, ist fast unerträglich und kann nur dosiert betrauert werden, zu groß scheint der Schmerz. Schon damals musste ich meine Mutter glücklich machen, 16 Jahre zwischen meinen Eltern im Bett liegen (um die Sexualität zu verhindern?), ich hatte nie das Recht auf eigene Wünsche, niemand war für mich da, ich musste mir dadurch, dass ich alles für meine Mutter tat, Liebe verdienen. Seit meiner Krankheit fühle ich, dass aushalten, in meiner Kindheit meine größte Stärke war, im Erwachsenenleben aber meine größte Schwäche. Hat mich das krank gemacht? Heute ist mir klar, dass ich die Not des kleinen Mädchen in mir nie gefühlt hatte, ich habe es an die Wand gedrückt, wie meine Mutter?? Mein stärkstes Gefühl ist, ich hatte Krebs. Der Arzt, der mich operiert hatte, sagte mir sehr deutlich, lesen sie A.M. und machen Sie einen radikalen Schnitt in ihrem Leben. Ich bin dabei, ich habe mein Leben in der Hand und ich will mich leben, aber es vermischt sich mit alten Gefühlen, wenn ich einen Fehler mache war es in der Kindheit mit tödlichen Gefühlen gekoppelt. Der Zugang zu meiner Wut ist verschüttet, ich kann weinen und Schmerzen empfinden, aber wie komme ich an meine Wut? Eins fühle ich, ich stelle mich mehr an die erste Stelle und fange an mich zu wehren bei Sachen die sich nicht gut für mich anfühlen und es kommen zarte Gefühle hoch “ja, heute ist es nicht tödlich”, ein zurück, zur angepassten, bequemen Frau, die alles beim anderen versteht, nur sich selbst nicht, wird es nicht mehr geben.
Dank für Ihre Bücher, langsam beginne ich Ihre Worte zu erfühlen. Ich würde mich über eine Antwort von Ihnen freuen und Sie können, wenn Sie möchten mein Schreiben an Sie gerne veröffentlichen.

AM: Ja, wenn es nicht anders geht, muss sich das gequälte Kind in der Krankheit äussern. Zum Glück sehen Sie die Zusammenhänge und leugnen nicht die Schmerzen Ihrer Kindheit. Das ist bei Krebspatienten eine Seltenheit. Aber Sie kommen nicht an Ihre Wut heran, schreiben Sie. Versuchen Sie, sich vorzustellen, dass Sie am Tisch sitzen, in Ihrem jetzigen Alter, und neben Ihnen zwei Riesen, die Ihnen etwas in den Mund hineinstopfen. Sie sagen Ihnen, Sie müssten sterben, wenn Sie dies nicht schlucken; Sie glauben Ihnen, weil sie bewaffnet sind. Sie wollen nicht sterben, also würgen Sie und schlucken das ekelige Zeug, auch Rizinusöl. Vielleicht können Sie endlich Ihre Wut spüren und hören auf, Ihre Eltern zu schonen, die Sie solchen Qualen ausgesetzt haben, total erbarmungslos.
Das Tragische ist, dass man Ihnen verboten hat, Ihre Wut zu äußern; und diese Angst vor den Eltern hat Sie krank gemacht, weil Sie von Ihren starken Emotionen so lange getrennt waren. Doch Sie haben jetzt die Chance, gesund zu werden, weil Sie Ihre Wut suchen und Sie zweifellos finden werden. Weil Ihnen heute keine Strafen mehr drohen, sobald Sie bereit sind zu WISSEN und zu FÜHLEN, wie unmenschlich Sie von Ihren Eltern behandelt wurden. Ihre Krankheit lässt Sie nicht länger daran zweifeln, oder doch?

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet