Meine Kindheit wiederentdeckt

Meine Kindheit wiederentdeckt
Wednesday 12 March 2008

Liebe Alice Miller,

nach Monaten, in denen ich mich wieder mit ihren Büchern und auch mit der für mich neuen Internetpräsenz beschäftigt habe, habe ich mich entschlossen Ihnen zu schreiben, um Ihnen zu danken. Aber auch, weil es mir momentan körperlich sehr schlecht geht und mir das wahnsinnige Angst macht, mein Körper (Seele) könnte all das entdeckte Grauen nicht verarbeiten und mich mit schwerer Krankheit oder dem Tod dafür bestrafen, dass ich so mit mir umgegangen bin (?) oder dass ich wirklich hinsehen und die Wahrheit entdecken will? Ich weiß, das ist verrückt, Krankheit als Strafe zu sehen (mal wieder was falsch gemacht zu haben) und den eigenen Körper nicht als Verbündeten, Botschafter und Helfer meiner Seele betrachten zu können, aber genau da liegt das Perfide, das wohl aus meiner frühesten Kindheit erwachsen ist. Meine frühesten (54 Jahre verdrängten) Erfahrungen haben vor allem eines hervorgebracht: ANGST, ANGST und nochmal ANGST. Angst essen Seele auf. Dieser Titel und auch der Film von Fassbinder haben mich schon als Jugendliche sehr berührt. Ja, der Film hat wehgetan und ich wusste damals nicht weshalb.
Ich hatte Angst vor Strafe, Angst verlassen und völlig alleine zu sein, Angst unbemerkt zu sterben, soziale Ängste, Angst mich zu blamieren, Angst zu versagen….und und, und…ANGST WAR MEIN VORRANGIGES LEBENSGEFÜHL. Und weil Angst irgendwas mit Wut zu tun hat, oder besser gesagt, die gelebte Wut die Angst auflösen kann, mache ich hier eine kleine Schleife in meinem Bericht. Denn ich hatte lange gar keinen Zugang zu meiner unterdrückten Wut, nur Angst. Wut entdeckte ich erst, als ich sehr wütend auf mein Kind wurde, was ich aber gar nicht verstand.
Ich sagte am Anfang dieser Mail, ich hätte mich “wieder” beschäftigt mit ihren Büchern, da ich mich schon einmal -vor etwa 14-15 Jahren- mit ihren Erkenntnissen auseinandergesetzt habe, was wahrscheinlich meinem Sohn das Leben gerettet hat, zumindest zum Teil.

Ich hätte aber niemals geglaubt, dass ich selbst noch soweit von einer eigenen Heilung entfernt war, wie ich das jetzt festgestellt habe.
————————————————————————————————————————————————————————————————————————————————

Unter meinem Vater hatte auch mein ältester Bruder zu leiden. Von der Mutter bisher besser behandelt als wir, konnte mein Vater sich in seinem ältesten Sohn nicht erkennen. Er dachte, ein Junge, der so langsam im Denken ist und ihn manchmal so ansah, dass er an dessen Verstand zweifelte, könne nicht von ihm sein oder hätte durch die Bluttransfusion nach der Geburt einen “Dachschaden” – wie er sich ausdrückte – erlitten. Also nötigte er meine Mutter mit dem Kind zum Psychiater zu gehen. Der unterhielt sich eine Weile mit dem Kind, sagte dann zu meiner Mutter unter vier Augen: “Ihr Kind ist völlig normal, aber schicken Sie mir mal ihren Mann vorbei.” Damit war die Sache gegessen. Sie genoß es, das zu erzählen, beschützt hat sie diesen Bruder aber auch nicht. Einmal musste er mit meinem Vater ein Gedicht lernen. Die ganze Nacht. Meine Mutter saß mit mir in der Küche und hörte zu. Das Gedicht begann (in mein Hirn eingebrannt): “Ein Leben war’s im Ährenfeld….”. Es war ein längeres Gedicht und jedesmal, wenn mein Bruder hängenblieb, wurde er angebrüllt und ans Ohr geschlagen. Dann kam wieder seine vom Schluchzen erstickte Stimme, dann brüllte mein Vater: “Lauter!!!” und mein Bruder sollte das Gedicht noch ganz besonders -wie vorgemacht- betonen. Da mein Bruder Angst hatte wieder hängenzubleiben, schnodderte er den Anfang immer schneller herunter: “Ein Lebben war’s…..um dann irgendwann wieder hängenzubleiben mit erstickender Stimme……..usw………so ging das die ganze Nacht!!!
Dieser Bruder hatte immer schwere Bronchitis und schielte (wahrscheinlich hielt mein Vater ihn deshalb für einen “Idioten”) , das wurde aber später in einer OP korrigiert. Dazu hatte er sehr abstehende Ohren, die durch den erzwungenen militärischen Haarschnitt noch schlimmer auffielen. Dieser Bruder hatte nicht nur selbst immer Probleme auf den Bronchien sondern sein Sohn leidet schon seit er auf der Welt ist an Asthma. Sein Erstgeborener starb den Kindstod im Alter von einem Jahr.
Mein Vater behandelte diesen Bruder ein Leben lang wie einen dummen Deppen. Sagte mir mal nach 20 Jahren, die einzigen Vorwürfe, die er sich mache wegen unserer Erziehung, seien wegen meines älteren Bruders, weil er sich “nicht genug” um ihn gekümmert hätte. Mein Bruder war keineswegs dumm, machte Abitur, lernte 2 Berufe, war beliebt und sehr attraktiv, schaffte es aber nie eine Arbeitsstelle zu halten. Fühlte sich immer als Versager. Kenn’ ich.
Kürzlich fand ich Fotos aus dieser Frankfurter Zeit. Wir durften einmal im Jahr zu unserer Verwandtschaft in die Südwestpfalz. Meine beiden älteren Brüder waren bei der Mutter meines Vaters und ich und mein dritter Bruder -damals der kleinste- durften zur Urgroßmutter, die bei ihrer Tochter und deren Tochter lebte. Ein reiner “Weiberhaushalt” mit häufigem Besuch meiner Großmutter und deren anderer Schwester. Dort waren also Fotos gemacht worden von uns vier Kindern. Ein Bild des Jammers. In feinen Anzügen und Kleid, alle ganz ernst, die Köpfe und den Blick gesenkt. Nur einer versucht zu lächeln. Das sieht schrecklich aus. Auf einem Bild halte ich mein Brüderchen umklammert, den Kopf aber ganz tief nach unten gesenkt, meine Großtante sitzt daneben und legt Hand an mein Brüderchen. Erst dachte ich, was soll das? Dann fiel mir wieder ein, was meine nette Großtante (die mir auch so gefühlvoll mitgeteilt hatte, wie mein Vogel zu Tode gekommen war- weiter vorne erzählt-) damals zu mir gesagt hatte:”Ich will den Andy allein auf den Arm nehmen fürs Foto, schließlich ist meine Tochter seine Patin. Am liebsten hätten wir ihn ja alleine gehabt in den Ferien, aber wir bekommen ihn ja nur, wenn wir dich auch nehmen.” Ich hatte sie und ihre Tochter ja nur genervt. Ich schlief in der Besucherritze ihres Doppelbettes, in dem sie zusammen schliefen und knirschte jede Nacht mit den Zähnen. Mein Vater hatte auch nicht versäumt zu erzählen, dass ich Schwierigkeiten in der Schule machte und daraufhin sagte meine über alles geliebte Urgroßmutter: “Hol sie aus dem Gymnasium, wenn sie nicht lernt, hat sie das nicht verdient und schick’ sie in die Schuhfabrik. Dort lernt sie, was Arbeit ist.”
Das tut weh, so weh. Vielleicht liegt hier der Grund, dass ich es später nie wahrhaben wollte, wenn eine geliebte Person etwas für mich Schreckliches sagte. Ich wollte es nicht gehört haben. Verdrängte es. Glaubte mich geirrt zu haben, usw…
Nach vier Jahren in Frankfurt und endlich einigen Freundinnen, wurde meine Mutter wieder schwanger. Das machte nun meinem Vater Angst und er wollte uns wieder zurück in der Provinz, damit wir in der Großstadt nicht unter die Räder kämen. Dabei hätte ich dort vielleicht echt eine Chance gehabt, diesem gräßlichen Elternhaus zu entkommen und zu studieren. Es war 1967, ein Jahr, bevor die Studenten-revolten begannen. Ich war 13. Es wurde demokratisch abgestimmt. Klar, als Sozi (mein Vater) musste das sein. Meine kleinen Brüder hatte er aber gewaltig manipuliert und ihnen erzählt, wie toll das doch sei, wieder so nahe bei der Oma, etc. Meine beiden Brüder 10 und 11 Jahre stimmten für den Umzug, meine Mutter und ich dagegen. Meines Vaters Stimme Stimme gab den Ausschlag. Er hatte gesiegt. Wir zogen zurück in die Kleinstadt. Er blieb in Frankfurt und kam am Wochende nach Hause.
Ab diesem Zeitpunkt wurde meine Mutter so richtig zur Alkoholikerin und jetzt fing das Martyrium für uns erst richtig an und endete erst vor 2 Jahren, als ich 52 war und sie starb.
Hier ende ich mit dem ersten Teil, liebe Alice Miller, weil es jetzt zuviel wird. Eigentlich wollte ich ja nur etwas über meine Jetzt-Situation schreiben und es war mir auch immer klar, dass meine Jugend und die fortgesetzte, erzwungene Vereinnahmung durch meine Eltern auch in meinem Erwachsenenalter viel Schaden in meinem Leben angerichtet haben, aber erst durch Sie begann ich auch meine Kindheit genauer zu hinterfragen, woran Psychologen, Freunde, etc. mich ja immer gehindert hatten, mit den bekannten Argumenten.
Ich hatte mich, nach dem Tod meines Vaters und als ich meine Mutter dann alleine erleben konnte, ernsthaft gefragt: Wie war meine Mutter eigentlich, bevor sie angefangen hatte zu trinken? War sie jemals die liebe, sanfte Mutter, als die sie sich bei fremden Leuten immer verkaufte? Sie war immer das Opfer. Das Opfer ihres Mannes und ihrer Kinder, die ihr das Leben versaut hatten.
Nach dem Tod meines Vaters – als dessen Opfer ich sie auch immer gesehen hatte – und als ich schwanger war, versuchte ich nochmal einen Annäherungsversuch vielleicht über Gefühle, die sie für ihren Enkel hätte? Sie sagte wörtlich:” Ich weiß überhaupt nicht, was Du willst von mir. Das ist doch dein Kind. Was habe ich damit zu schaffen? Laß’ mich doch endlich in Ruhe mit deinem Kram!”
Wir erlebten unsere Mutter jetzt ganz unverstellt als kalt, desinteressiert, intrigant aber auch als sehr fordernd usw….
Das warf dann für mich die Frage auf: War sie etwa schon immer so und nicht der Alkohol hat sie so gemacht? Deshalb unternahm ich diese bittere Reise in meine Kindheit. Die wurde dann ausführlicher, als ich selbst gedacht hätte. Zunächst fand ich die Vorstellung schrecklich, alles aufzuschreiben, aber dann kam Stück für Stück Vieles wieder nach oben, was ich schon vergessen glaubte. Aber wozu das schreiben? Das musste ich schon mal in einer Psychosomatischen Kur machen. Ich hatte mich ziemlich gequält, dann Einiges geschrieben und der Therapeut dachte wohl, das genüge. Gesprochen wurde nicht darüber. Und so hatte ich wieder das Gefühl, Niemanden interessiert das, ich bin lästig, aufdringlich, kann nicht endlich loslassen. Eine ältere Psychologin meinte mal beim Erstgespräch, ich sei ja eine Zumutung. Wie eine Dampfwalze empfand sie mich. Ob ich denn wisse, wer sie sei. Ihr Mann war der Professor und Chef der Psychiatrie an einer Uniklinik im Saarland gewesen und wäre kürzlich gestorben. Jetzt könne sie sich nicht mit solchen aufdringlich vorgetragenen Dramen befassen.
…solche Dinge machten mich immer so traurig und manchmal auch mutlos.
Mut bekam ich erst wieder durch Sie, liebe Alice Miller. Ich kann kaum ausdrücken, wie dankbar ich Ihnen bin. Sie sind mir in den letzten Monaten durch ihre Bücher und ihre empathischen Antworten auf ihre Leserbriefe zu einem Lebensquell geworden. Es ist, als sei mir mein eigentliches Leben erst jetzt geschenkt worden.
Hatte ich früher Psychologen gegenüber gesagt, ich fühle mich wie im falschen Leben, sagten sie das wäre Quatsch. Ich hätte nur ein Leben, das, dass ich mir geschaffen hätte und das sei richtig. Und ich hatte Angst, mich selbst zu finden. Ich fürchtete immer, wenn ich zum Kern vordringen würde, würde ich am Ende nur eine riesige Leere vorfinden. Dass das nicht wahr ist, sondern, dass mein innerster Kern unzerstörbar, heil, stark, voller Leben und Kreativität ist und ich ihm blind vertrauen kann, ahnte ich bisher nur zweimal in meinem Leben. Durch einen wunderschönen Traum und ein Vertrauensexperiment während der Suchttherapie.
Heute sehe die Welt mit anderen Augen. Politik, Gesellschaft, Schule, Kirche…….. viele Jahre war ich ständig krank und wusste nicht , weshalb. Jetzt darf ich es fühlen, was mein Bauch schon lange wusste. Alles macht Sinn. Und Jeder kann es für sich sehen und fühlen. Ihre Erkenntnisse sind wirklich bahnbrechend und ich bekomme das jetzt ständig bestätigt, durch mein eigenes Leben und durch das Anderer.
Wenn Jemand den Friedensnobelpreis verdient hätte, dann wären Sie das. Ich habe die grosse Hoffnung, dass immer mehr Menschen verstehen und in ihrer nächsten Umgebung in diesem Sinne wirken werden.
Ich hoffe, ich habe Sie jetzt nicht erschlagen mit dieser lange Mail, aber ich konnte einfach nicht aufhören zu schreiben. Es ist mir klar, dass Sie viel Post erhalten und sich nicht mit Allem befassen können. Mit meiner Mail können Sie verfahren, wie Sie möchten, auch veröffentlichen oder Teile davon mit meinen Initialen. Ich würde es mir so sehr wünschen, ab und an einmal schreiben zu dürfen und über mein jetziges Leben -dann sicher kürzer ;-)- berichten zu können, denn in meiner Umgebung fühle ich mich doch noch sehr einsam mit meinen neuen Erkenntnissen und ich glaube, ich entwickle mich schneller, als ich es verarbeiten kann.
Es täte so gut, einmal von einem mitfühlenden Menschen bestätigt zu kommen: Ja, deine Kindheit war alles andere als schön und Du hast wirklich Grund und Recht traurig und wütend zu sein.
Alles Liebe für Sie und die ebenso wunderbare Barbara Rogers, K. S.

AM: Ihr Bericht ist glänzend und spannend geschrieben, aber leider viel zu lang, um hier veröffentlicht zu werden. Vielleicht schreiben Sie einmal ein Buch über Ihre Kindheit? Sie haben die Gabe, Ihr heutiges Wissen zu gebrauchen, um Dinge und Menschen zu schildern und verstehen, wie das selten vorkommt. Hier bringen wir nur einige Fragmente.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet