Die Wut gegen sich selbst gerichtet

Die Wut gegen sich selbst gerichtet
Friday 21 August 2009

Liebe Alice Miller,

ich möchte Ihnen noch eine Geschichte erzählen, nachdem ich mich vor zwei Tagen auf Ihren Rat hin auf Ihr Buch „Mein gerettetes Leben“ gestürzt hatte: Ich habe sie „Das himmelblaue Hemd des Todes“ genannt. Hier ist sie:

Der Tod trägt ein himmelblaues Hemd. Ich habe ihn heute Morgen beobachtet. Er überholte mich auf seinem rabenschwarzen Fahrrad, trat mit seinen langen schwarz bekleideten Beinen kräftig in die Pedale. Schon mit den frühen Sonnenstrahlen dieses heißen Sommertages dringt Schweiß auf seinen Rücken, zeichnet sein Skelett auf das blaue Hemd. Seine Wirbelsäule wie eine zum Tanz aufgerichtete Schlange. Seine Rippen wie ein frisch gepflügter Acker. Die beiden Schulterblätter wie die Schwingen einer Erbsenblüte. Mit dunkler Feuchtigkeit malen die Knochen des radelnden Mannes ein Bild des Knochenmanns. – Ein Knochenorakel, das an mir vorüber fliegt wie die Werbebotschaft eines Zeppelins. Ich beginne zu interpretieren. Tanzende Schlange – manipuliertes Leben. Frisch gepflügter Acker – Saat und Hoffnung auf neue Nahrung. Erbsenblüte – die Saat ist aufgegangen. Der Tod? Gerade ist meine Mutter in mir gestorben. Ich weine keine Träne mehr wegen ihr, habe mich innerlich von ihr getrennt, von der Abhängigkeit, die sie subtil forderte. Ich habe diese Abschleppstange zerbrochen, die mich an sie band wie ein kaputtes Auto. Heute Morgen bin ich aufgewacht und habe gestaunt, dass ich nachts nicht wie üblich unzählige Male aus dem Bett aufgestanden war, um zu trinken, um zur Toilette zu gehen, um einen Beinkrampf aufzulösen. Ich habe zum ersten Mal seit langem durchgeschlafen. Ein Schlussstrich. Gestern habe ich diesen Schlussstrich unter mein bisheriges Leben gezogen. Ich habe mir zugestanden, wütend zu sein, wütend auf einen alten Menschen, auf meine Mutter, wütend auf ihre Schläge, gegen die ich mich nicht wehren konnte, früher mit ihrer Hand ausgeführt, heute mit ihrer scharfen Zunge. Gestern habe ich mich davon abgewendet. Mein Entschluss: ich werde die Verletzungen nicht mehr erdulden. Früher dachte ich, Eltern hätten ein Recht, ihre Kinder zu verletzen. Ich habe über meine Verletzungen gesprochen. Zögernd erst, doch dann immer bewusster. Doch niemand fand das, was ich erleiden musste, wirklich empörend, oder: ich habe die Empörung nicht wahrgenommen. Vor ein paar Tagen sagte mir eine Frau, der ich die jüngste Demütigung durch meine Mutter beschrieb, dass sie aufgestanden wäre und den Ort verlassen hätte, wäre sie an meiner Stelle gewesen. Sie hatte den Rat für mich, auf den ich so lange gewartet habe, den ich mir schon selbst gegeben habe, den ich nicht umzusetzen wagte. Sie hat mir den Rücken gestärkt, hat mich bestätigt, dass ich nicht falsch handle, wenn ich meinem Impuls folge. Plötzlich und doch wie durch eine Zeitlupe wird mir das klar. Plötzlich kann ich loslassen. Plötzlich kann ich durchschlafen. Und dann fährt der Tod an mir vorüber, der Tod im himmelblauen Hemd. Es war nur ein Mann, ein eiliger, schwitzender Radler, zufällig. Und doch: ein Fanal für mein Leben.

Ich danke Ihnen für Ihre Bücher, für Ihr Engagement, für Ihre kompromisslose Ehrlichkeit. Ihre EBR

AM: Sie haben Ihre berechtigte Wut auf die Mutter gegen sich selbst gerichtet, um die Mutter zu schonen. Nun scheinen Sie verstanden zu haben, was Sie Ihr ganzes Leben tun mussten, aber es jetzt nicht mehr tun wollen, zum Glück. Der lange Nachtschlaf hat sich im Namen Ihres Körpers für diese Einsicht bei Ihnen bedankt. Vergessen Sie das nicht.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet